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Folge 001
Aus dem nichts geboren – mitten in der Nacht „Grass-Version“
Ich wurde am 13. September 1956, um drei Uhr fünfzehn morgens, nicht im Krankenhaus, nicht im Scheinwerferlicht, sondern in einem Bett über der Wirtschaft geboren – wo die letzten Gäste gerade ihren Schnaps bezahlt hatten und Opa unten die Gläser spülte, als wäre nichts geschehen. Drei Uhr fünfzehn! Eine Uhrzeit, die nach Bier, nach Tabak, nach dem letzten Rundengong des Boxkampfes roch, den Mama sich im Fernsehen angesehen hatte, bevor ich beschloss, die Show zu stehlen. Die Hebamme, eine Frau mit Händen wie Schaufeln und einer Stimme, die Berge hätte versetzen können, kommentierte mein Debüt mit einem ‚Na, der hat’s aber eilig!‘, während Mama, zwischen Wehen und Lachen, noch die Haare des letzten Gastes im Kopf hatte – literally. Denn unten in der Kneipe war der Abend noch nicht vorbei, und oben begann mein erster Auftritt: ein Solo, bei dem ich die Hauptrolle spielte, ohne auch nur ein Wort zu sagen.Mein Großvater – dieser dreifache Zauberer der Haare, der Gläser und der kaputten Gliedmaßen – regierte sein Reich zwischen Theke und Frisierstuhl wie ein König, dem selbst die Puppe mit dem abgebrochenen Arm noch Gehorsam schuldete. Meine Großmutter hingegen, die Wirtin, herrschte über Töpfe und Rechnungen mit der unerbittlichen Präzision einer Buchhalterin der Schöpfung. Und Papa? Der turnte mehr auf den Händen als auf den Füßen durchs Leben, als wolle er der Schwerkraft beweisen, dass sie nur eine Meinung, aber kein Gesetz war. Mama aber, die Friseurin, die Mutter, die Haushaltsgeneralin, war der einzige Hafen, an dem ich mich festkrallte, während die Welt um mich herum in Schuhe, die nicht von ihr angezogen wurden, und Kinderwagen, die mich in den Schlaf wiegten wie ein Schiff auf hohem Meer, zerfiel.Ich war ein Kind, das die Gesetze der Physik persönlich nahm: Stuhllehnen waren meine Gegner im Ring, Parkbänke meine Niederlagen, Pferde meine kurzlebigen Triumphreittiere. Immer lag ich irgendwo – auf dem Boden, im Staub, mit blutigen Knien als Trophäen. Doch kaum hob mich eine fremde Hand auf, ließ ich mich wieder fallen, bis Mamas Arme mich einfingen wie ein Netz unter dem Trapez. Und dann, dann schlief ich ein – im Kinderwagen, im Bus, im Flugzeug, überall, wo die Welt mich schaukelte wie eine Wiege, die nur für mich gebaut war.Alles in allem war meine frühe Kindheit so, dass ich nicht darüber klagen kann. Eher meine Eltern hatten Grund dazu. Ich war ziemlich anstrengend. Und sehr auf Mutter fixiert. Keiner durfte an mir irgendetwas machen. Nur Mama. Einmal zog mir Papa die Schuhe an, weil es schnell gehen sollte. Daraufhin machte ich ein riesiges Theater und bestand auf: „Papa Schuh ausziehn, Mama Schuh anziehn.“ Immer wieder, bis meinem Ansinnen Folge geleistet wurde. Andererseits war ich pflegeleicht und schlief sofort ein, sobald ich im Kinderwagen lag und der geschoben oder geschaukelt wurde. Das ist bis heute so. Kaum sitze ich als Beifahrer im Auto, im Bus, im Zug oder im Flugzeug, schon fallen mir die Augen zu. Ich liebe es, mit Menschen um mich herum, einer gewissen Geräuschkulisse und etwas Schaukeln einzuschlafen. Ich hatte eine zwei Jahre ältere Schwester und einen acht Jahre jüngeren Bruder. Meine Schwester wurde ebenfalls Friseurin. Die Schwester meines Vaters ist Friseurin und der Bruder meiner Mutter war Friseur. Da war es wohl unabwendbar, dass auch ich in diese Fußstapfen trat. Und manchmal, wenn die Welt mir zu eng wurde, schlüpfte ich in die Röcke meiner Schwester oder in Tante Sophies Ballkleid – nicht, weil ich ein Mädchen sein wollte, sondern weil ich alle Rollen spielen wollte: den Clown mit der Perücke, den Prinzen auf dem Pferd, die Fee im Kinderwagen. Damals gab es noch keine Schubladen für Kinder – nur Kostüme, die man anprobierte wie die Frisuren im Salon meiner Eltern. Ich war, was ich war: ein Junge, der sich genauso gut in Glitzer wie in Matsch wohlfühlte. Was sollte daran falsch sein? Die Puppe Erika, meine Billig-Barbie, trug bald mehr Outfits als die Kunden im Laden – und ich? Ich trug, was mir gefiel. Point. Ende der Diskussion
Folge 002
„Das Haus am Hang“ Eine Erzählung im Stil von Emily Brontë
Das Hinterhaus klammert sich an den Hang, wie ein Wesen, das sich vor dem Sturz fürchtet – Hinnedrowwe, nannten sie es, ein Name, der schon ein Flüstern war, ein Warnen: Hinten. Oben. Als könnte man dort, wo die Welt sich neigt, dem Himmel näher sein und doch gleichzeitig tiefer fallen als alle anderen. Ich wurde hineingetragen in dieses Reich aus Stein und Schatten, wo die Luft nach Heizöl und nassem Mörtel roch, wo die Türen nicht nur Räume verschlossen, sondern auch Geheimnisse, Ängste, die zugempfindliche Seele des Vaters. Man betrat das Haus durch den Keller, als wäre selbst der Eingang eine Demütigung, ein Hinabsteigen in die Unterwelt, bevor man sich zur Welt der Lebenden emporquälte. Drei Stufen, vier vielleicht, dann stand man im Vorraum zum Keller. von ging die sich roh windende Holztreppe hinauf und man stand vor der Schiebetür – immer geschlossen, immer bewacht von den unsichtbaren Dämonen der Zugluft, die der Vater fürchtete wie andere Männer den Tod. Ich lernte schnell: Hier gab es keine Unachtsamkeit, keine offen stehende Tür, kein unkontrolliertes Lüften. Die Welt draußen war feindselig, und das Haus ein Bollwerk, das nur durch die Gnade der Scharniere und Riegel zusammengehalten wurde. Die Küche war das Herz dieses Labyrinths, doch es schlug nicht warm, sondern mit der kühlen Präzision eines Mechanismus. Der Esstisch stand da wie ein Altar, seine Resopalplatte glänzend und fremd, die Beine gespreizt, als wollte er jeden Moment zusammenbrechen. Der Schuhschrank, ein stummer Zeuge kindlicher Abenteuer, bewahrte mehr als nur Fußbekleidung – er hütete die Träume der Kinder, ihre Fluchtversuche in imaginäre Welten, während draußen der Brunnenbäcker sein Brot backte und die Familie Holzschuh ihre eigenen, unausgesprochenen Dramen lebte. Doch das wahre Reich des Schreckens und der Wunder war das Bad. Rosarote Kacheln, die im Licht der einzigen Glühbirne wie blutige Flecken an den Wänden wirkten. Der Badeofen, ein Ungeheuer aus Eisen und Flamme, brummte und zischte, während ich armer Wicht, auf dem Abflussstöpsel hocken musste, verdammt zu einer Position, die mir keine Aussicht gewährte – nicht auf die Schaumberge, die meine Schwester am anderen Ende der Wanne türmte, nicht auf die grünen Brausetabletten, die sich wie giftiger Sand in meine Haut fraßen. „Algemarin Drachengrün“ – ein Name, der nach Magie klang, doch nur eine weitere List der Erwachsenen war, um uns zu zähmen. Mein Schwesterherz und ich schmierten uns damit ein, bis wir wie Waldgeister aussahen, bis unsere Mutter mit schriller Stimme die Rückkehr zur Ordnung befahl, als könnte sie die wilden Seelen von uns Kindern mit einem Schwamm abwaschen. Die Seifenschale an der Wand war unser Spielzeug, ein kleines Theater des Wassers: Wir drückten den nassen Schwamm gegen die Öffnung, fingen die Tropfen im Zahnputzbecher auf, als könnten wir so die Zeit selbst einfangen. Doch dann kam die Seife. Und das geschah Immer. Und mit ihr das Ende – die Schaumberge zerfielen, die Illusion von Macht und Freiheit verflüchtigte sich im Abfluss, während Mutter mit Hadern die Überflutungen aufwischte, die wir selbst verursacht hatten. Die Treppe nach oben führte in ein Reich der Enge. Die „Long Stuwwe“, das Zimmer meiner Schwester, ein schmaler Schlauch, in dem kaum Platz war für Träume, geschweige denn für Bewegung. Mein eigenes Zimmer lag unter der Dachschräge, abgetrennt vom Elternschlafzimmer nur durch eine Glas-Schiebetür – ein fragiler Schutz, eine durchsichtige Grenze zwischen Kindheit und den unausgesprochenen Pflichten der Erwachsenen. Ich hörte sie nachts, das Flüstern, das Stöhnen, die Geräusche eines Lebens, das es mir noch nicht dulden wollte. Und doch, durch einen schmalen Flur, öffnete sich plötzlich der Garten, ein Stück Wildnis mitten in der Zivilisation, wo die Dächer der Nachbarn wie die Mauern einer Festung wirkten und der Wind durch die Gemüsebeete fegte, als wollte er sie alle fortwehen. Unten in der Garage, hinter einem dicken Holztor stand das Goggo-Mobil, später die Dauphine, wie sie genannt wurde, Papas ganzer Stolz, ein Renault, der mehr Liebe erhielt als die Kinder. Ich beobachtete das Auto oft, als könnte es mich eines Tages mitnehmen, fort von diesem Hang, fort von den rosaroten Kacheln und dem Heizölgestank. Doch das Haus hielt mich fest. Es würde mich noch eine ganze Weile halten. Dann, ja, fast 8 Jahre später kam mein Bruder. Ralf. Ein neues Wesen in unserem Geflecht aus Pflichten und Ängsten, ein weiterer Grund, warum die Wände enger wurden, die Luft schwerer. Doch das war eine andere Geschichte. Eine, die noch erzählt werden muss.
Folge 003
„Die Rituale des Untergangs“ – nach Thomas Bernhard
Es war immer dasselbe, dieses drückend-schwüle Warten auf etwas, das kommen musste, wie alles in diesem Haus, in diesem Hof, in diesem ganzen verfluchten System aus Regeln und Gerüchen, das uns Kinder wie Fliegen in einem Glas hielt. Erst das Spiel im Hof, dieses „Ich bin ein Kaufmann aus Paris“, bei dem wir Farben und Kleidungsstücke erraten mussten, als gäbe es auf der Welt nichts Wichtigeres, während die Hitze uns die Köpfe wie überreife Pflaumen weichkochte, und dann der Gummi-Twist, bei dem wir uns die Knöchel blutig sprangen, nur um später, wohlig erschöpft und mit dem Gefühl, etwas Großes geleistet zu haben, nach Hause zu stolpern, wo Mama uns abwusch, als wollten wir gleich in die Kirche statt ins Bett. Und dieses Bett – dieses verfluchte, gesegnete Bett – frisch bezogen, nach Wäsche duftend, als könnte ein Laken die Welt retten, während draußen das Gewitter losbrach, nicht einfach nur ein Gewitter, nein, ein Weltuntergang in Zeitlupe, bei dem ich mich unter meiner Kuscheldecke verkroch, die ich wie Linus, dieser armselige Trottel aus den Peanuts, den ganzen Tag mit mir herumschleppte, weil sie nach mir roch, nach mir und nur mir, und wenn sie gewaschen wurde, war es, als hätte man mir die Haut abgezogen. Dann presste ich sie an mein Gesicht, bis der vertraute Geruch zurückkehrte, dieser einzige Beweis, dass ich noch existierte, während draußen die Blitze die Luft zerrissen und die Erwachsenen so taten, als wäre alles in Ordnung. Doch die Ordnung war eine Lüge, wie alles andere auch. Denn während ich mich in meiner selbstgebastelten Höhle aus Federbetten und Geborgenheit einigelte, hing im Schuppen des Nachbarn bereits das Schwein, das Schwein ohne Namen, das noch am Morgen durch den Hula-Hoop-Reifen gesprungen war, sich einen Hut hatte aufsetzen lassen und uns mit seiner dummen, freundlichen Intelligenz beleidigt hatte, indem es einfach da war, lebendig, warm, besser als der Hund des Nachbarn, der nur kläffte und biss. Und dann kam Heini, der Hausmetzger, dieser stille Henker mit seinem trichterförmigen Rasierapparat, der das Tier in eine glänzende, blutige Skulptur verwandelte, als wäre es nie etwas anderes gewesen als Fleisch, das an einem Torrahmen baumelt. Und ich stand da, fasziniert und angewidert, während er die Därme herauszog, sie umstülpte wie ein verkehrtes Universum, und alles in einer Geschwindigkeit, als hätte er es eilig, uns zu beweisen, dass Leben nichts weiter ist als Material. Doch das Schlimmste war nicht das Schwein, nein, das Schlimmste war Monika in der Wurstküche, diese blutverschmierte Priesterin eines Kultes, den ich nicht verstand. Da stand sie, rührte in der Blutbrühe, in der die Speckgrieben wie Augen schwammen, und wischte sich mit dem Unterarm das Nasenblut ab, das ihr der Pfeffer in die Hirnrinde trieb, während sie weiterrührte, als wäre es das Normalste der Welt, in einem Topf aus Blut und Fett zu wateten, als wäre das der Sinn des Ganzen. Und ich wollte schreien, davonlaufen, aber ich stand nur da, gefangen in diesem Albtraum aus Gerüchen und Geräuschen, der sich für immer in mein Gedächtnis brannte – zusammen mit der unüberwindlichen Gewissheit, dass ich nie wieder Blutwurst anrühren würde, nie wieder, solange ich lebte. Und dann, ja, dann kamen die Rituale, diese gottverdammten Rituale, die alles noch schlimmer machten. Das samstägliche Mittagessen, bei dem Oma ihre dicken Bohnensuppen kochte, diese schweren, erdigen Brühen, die nach Armut und Überleben schmeckten, während der Hefekuchen mit Pflaumen, dieser süß-saure, fast verbrannte Traum, uns für einen Moment vergessen ließen, dass wir alle nur Marionetten in einem Stück waren, das längst geschrieben war. Der Kirschmichel, diese geniale Erfindung der Not, aus altbackenen Brötchen und Kirschen, die im Ofen zu etwas wurden, das fast nach Glück schmeckte – wenn da nicht immer dieser Nachgeschmack von Pflicht gewesen wäre, von „Iss, solange es gibt“, von „Morgen könnte der Krieg kommen“. Und die Erdrüben, dieses mehlige, süßliche Püree, das ich in mich hineinschaufelte, zwei Teller voll, nur um nicht an das Fleisch denken zu müssen, das daneben auf dem Teller lag, tot und unschuldig. Und dann der Kaffee mit Frau Milke, dieser rabiaten, rauchenden Furie, die mich mit elf Jahren schon wie einen Erwachsenen behandelte, als wäre Kindheit ein Verbrechen, das man so schnell wie möglich abstreifen musste. Wir saßen da, tranken den bitteren Sud, der mir die Kehle zusammenzog, und aßen Brot mit Pflaumenmus aus Mamas „Fliegenschrank“, diesem Denkmal der Angst, in dem Vorräte für sechs Wochen lagerten, als wäre das Leben nichts weiter als ein Warten auf die nächste Katastrophe. Und die Katastrophe kam, jeden Sonntag, wenn wir in den Kindergottesdienst abgeschoben wurden, nur um später am „Auszieh-Couchtisch“ zu sitzen, während im Fernsehen der „Internationale Frühschoppen“ lief, diese lärmende Runde von Selbstgefälligen, die über die Welt diskutierten, als gehöre sie ihnen, während wir Kinder stumm zu essen hatten, weil Mama kein Wort dazwischen duldete, nicht einmal, wenn uns die Langweile die Kehle zuschnürte wie eine Schlinge. Und dann, dann kam der Spaziergang, dieses sinnlose Marschieren, dieses gequälte Umherlaufen, nur um wieder nach Hause zu kommen, als wäre das Leben ein Kreis aus Pflichten und Schmerzen. Und wehe, Mama vergass, meine Beine mit Franzbranntwein einzureiben – dann war es aus, dann konnte ich nicht mehr, dann durfte ich nicht mehr, dann musste ich getragen werden, weil die Welt ohne diese eine, kleine Gnade einfach nicht zu ertragen war. Und alle schauten mich an, als wäre ich verrückt, dabei waren sie es, die verrückt waren, mit ihren Regeln, ihren Schweinen, ihren Suppen, ihren verlogenen Sonntagen.
Folge 004
„Tante Sophie oder Die Kunst des Stiftelns“ – nach Joseph Roth
Es gab in meiner Kindheit nur einen Menschen, der die Welt für mich erträglich machte, und das war Tante Sophie. Sie war nicht einfach nur eine Großtante – sie war ein ganzes Königreich, ein Reich aus Gummileim und Lockeneisen, aus Gewittergedichten und Heidelbeerwäldern, aus Zinkwannen und Kaffeetopfgrauen, in dem ich König sein durfte, ein kleiner, glücklicher Despot in einem Universum, das nach verbrannten Haaren und warmem Leim roch. Bei ihr durfte ich alles: ihre Hochzeitskleider tragen, als wären sie Kostüme aus einer anderen Zeit, Theaterstücke aufführen, die niemand verstand, und Bonbons aus Zucker und Dosmilch kochen, die uns die Zähne verklebten wie die Drahtstifte in den ovalen Gummiteilen, die sie stundenlang für die Bürstenfabrik „stiftelte“. Dieses „Stifteln“! Ich sehe noch die großen Metalleimer mit dem klebrigen, gelblichen Leim, der nach etwas zwischen Harz und Vergänglichkeit duftete, und wie wir mit dicken Pinseln die Gummiteile bestrichen, als würden wir die Welt zusammenkleben, Stück für Stück. Doch ich war ein schlechter Stiftler, zu ungeduldig, zu leicht abgelenkt von den Geschichten, die sie erzählte – Geschichten von ihrer Zeit als Kammerzofe im Schloss des Grafen Erbach-Erbach, wo die Wände flüsterten und die Diener sich wie Schatten bewegten. Und dann, bei Gewitter, wenn der Himmel über Gammelsbach so schwarz wurde wie der Kaffee in ihrem Einlasstopf, rezitierte sie Gustav Schwabs „Gewitter“ mit einer Stimme, die mich frösteln ließ, als stünde ich selbst in jener dumpfen Stube, in der Urahne, Großmutter, Mutter und Kind vom Blitz getroffen wurden. „Und morgen ist’s Feiertag“, flüsterte sie am Ende, und ich spürte, wie die Kälte des Todes sich mit der Wärme ihrer Küche vermischte, in der immer ein Topf mit jener grauen, bitteren Brühe vor sich hin köchelte, die sie „Kaffee“ nannte. Tante Sophie hatte nichts, und doch gab sie alles. Sie hätte mir ihre letzten Pfennige geschenkt, nur um zu sehen, wie ich lachend mit ihrem Lockeneisen hantierte – jenem alten, glühenden Ding, mit dem ich ihr die wenigen, graumelierten Haare zu widerspenstigen Ringeln zwirbelte, während sie geduldig die Verbrennungen an meiner Fingerkuppe mit Speichel kühlte. Sie war eine Frau, die keinen Feiertag kannte, außer denen, die sie sich selbst erfand: wenn wir im Wald Heidelbeeren pflückten, die nach trockener Erde und Farn schmeckten, oder wenn wir vor einem Unwetter in irgendeinem Schuppen Schutz suchten und sie mir mit ihrer rauen, sanften Stimme einflüsterte: „Buchen sollst du suchen, vor Eichen musst du weichen.“ Doch wehe, wenn wir bei einem Bauern um Wasser baten und ich stattdessen einen Becher körperwarmer Kuhmilch serviert bekam, direkt aus dem Euter, noch dampfend und nach Stall duftend – da blieb ich lieber durstig, als diesen ekelhaften Akt der Gastfreundschaft zu ertragen. Und dann das Baden! In der Gammelsbacher Straße gab es kein Bad, nur die Zinkwanne in der Küche, die abends zum Familienereignis wurde. Erst Ursula und ich, dann Onkel Wilhelm, dann Tante Sophie selbst, und schließlich Onkel Jakob, dieser geheimnisvolle Einsiedler, der sein Zimmer kaum verließ und dessen Taschentücher sich im Wasser in schleimige Lappen verwandelten – ein Rätsel, das ich erst Jahre später löste. Jakob war ein gezeichneter Mann, einer, der die Schrecken des Dritten Reichs in seinen leeren Blicken und den wenigen, verstreuten Zähnen trug. Er aß sein Brot mit Salami nicht, er ertränkte es in der grauen Brühe, schnitt es in „Reiter“, wie er sagte, und löffelte es mit lautem Schmatzen aus der Schale, als wäre es die letzte Mahlzeit vor der Hinrichtung. Tante Sophie duldete ihn, wie sie alles duldete: seine Eigenheiten, seine Trauer, seine stummen Schreie. Sie hatte ihm Zuflucht gegeben, so wie sie mir Freiheit schenkte – und mir ihre Möbel vermachte, den schweren Kleiderschrank, den roten Sekretär, die jetzt bei mir stehen wie stumme Zeugen einer untergegangenen Welt. Am Ende, als die Demenz sie holte und sie im Altersheim ihre letzten Tage fristete, fehlte mir vor allem eines: die Geste, mit der sie ihr Gebiss aus der Jackentasche zog, wenn eine Kamera blinkte, um nicht „so eingefallen“ auszusehen. Sie war eitel bis zum Schluss, diese Frau, die mir beibrachte, dass Armut nicht bedeutet, arm zu sein. Wenn es Engel gibt, dann sind es keine geflügelten Wesen – dann sind es Frauen wie Tante Sophie, die einem Kind die Welt schenken, während sie selbst in einer Zinkwanne voll Abwaschwasser baden. Und manchmal, wenn ich heute ihren Kleiderschrank öffne, rieche ich noch den Leim und höre das Gewittergedicht, das sie mir vorlas, als wäre es eine Warnung und ein Trost zugleich: „Und morgen ist’s Feiertag.“
„Das Gewittergedicht“ – ein Dialog mit Tante Sophie
Es war einer jener schwülen Nachmittage, an denen die Luft so schwer hing, als würde sie jeden Moment platzen. Tante Sophie saß am Küchentisch, die Hände noch klebrig vom Leim, und rührte in ihrem grauen Kaffee, während ich auf der Ofenbank hockte und die Drahtstifte in die Gummiteile steckte – oder vielmehr: sie mehr fallen ließ als hineindrückte. Draußen grollte es schon, ein tiefes, unheilvolles Brummen, als würde die Erde selbst warnen. „Hörst du’s, Walter?“, fragte Sophie und hob den Kopf, als könnte sie den Donner sehen. „Das ist kein gewöhnliches Gewitter. Das ist ein Zeichen.“ Sie strich sich eine Strähne der dünnen, graumelierten Haare aus der Stirn – die Strähne, die ich eben erst mit dem Lockeneisen zu einer widerspenstigen Locke gezwirbelt hatte, die jetzt schon wieder schlaff herabhing. „Komm her, ich les’ dir was vor. Aber pass auf – das ist kein Märchen.“ Sie holte ein zerfleddertes Buch aus der Schublade des roten Sekretärs, blätterte mit feuchten Fingern um und begann, mit einer Stimme, die plötzlich tiefer klang, als gehöre sie einer anderen: „Urahne, Großmutter, Mutter und Kind In dumpfer Stube beisammen sind…“ Ich spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief, nicht wegen des Donners, sondern wegen ihr. So hatte ich sie noch nie gehört. „Warum sagt die Urahne, sie will sterben?“, fragte ich, als Sophie fertig war. „Das ist doch furchtbar.“ Sophie nippte an ihrem Kaffee und verzog das Gesicht – nicht wegen des bitteren Geschmacks, sondern wegen der Frage. „Weil sie müde ist, Walter. Nicht traurig. Nur müde.“ Sie stellte die Tasse ab und beugte sich vor, bis ich den Geruch von Leim und Lavendel roch, der immer an ihr haftete. „Siehst du, die Urahne, die hat alles gesehen. Kriege, Hunger, Kinder, die zu früh gegangen sind. Für sie ist das Leben kein Abenteuer mehr, sondern ein langer Weg, auf dem sie nicht mehr weitergehn kann. Aber die anderen – die hören sie nicht. Die Mutter träumt von ihrem Feierkleid, das Kind von Blumen im Hag… und dann kommt der Blitz.“ Sie deutete zum Fenster, wo ein greller Schein die Küche für einen Augenblick in geisterhaftes Licht tauchte. „Und zack – ist alles vorbei. Für alle.“ „Aber… aber das ist doch gemein!“, rief ich. „Die haben doch nichts Böses gemacht!“ Sophie lachte leise, ein trockenes, warmes Lachen. „Nein, Walter. Das Leben ist nicht gemein. Es ist nur… gleichgültig. Wie ein Fluss. Der fließt, ob du willst oder nicht. Und manchmal reißt er einer was mit.“ Sie griff nach meiner Hand, ihre Finger waren rau von der Arbeit, aber warm. „Aber weißt du, was das Schlimmste ist? Dass sie am nächsten Tag alle tot sind… und morgen Feiertag ist. Die Sonne scheint, die Vögel singen, und niemand merkt, dass eine ganze Welt weg ist.“ Ich starrte auf den Tisch, wo ein Tropfen Leim langsam zu Boden kroch, zäh wie Tränen. „Und was heißt das für uns?“ Sophie strich mir über den Kopf, so fest, dass es fast wehtat. „Dass wir heute leben müssen. Nicht morgen. Heute.“ Sie nahm einen Drahtstift und steckte ihn mit einer Entschlossenheit, die ich bei ihr noch nie gesehen hatte, in das Gummiteil. „Stifteln, Walter. Das ist auch so ein Feiertag. Ein kleiner. Einer, den sich niemand sonst aussucht.“ Draußen krachte es, so nah, dass die Scheiben klirrten. Ich zuckte zusammen, aber Sophie saß ganz still da, als wäre der Donner ihre Musik. „Und wenn wir vom Blitz getroffen werden?“, flüsterte ich. Sie grinste plötzlich, und für einen Moment war sie wieder die alte Sophie, die mir Bonbons aus Zucker und Dosenmilch machte. „Dann, mein Junge, dann müssen wir wenigstens nicht mehr Onkel Jakobs Taschentücher waschen.“Folge 005
„Die Rollgasse und andere Wunder“ – nach Heinrich Böll
Zwischen dem Vorderhaus, in dem einst die Gaststätte und der Friseursalon des Opas waren, dem Haus des „Brunnenbäckers“ Ihrig, dessen Stall, dem „Hindedrowwe“, unserem Hinterhaus, und der Werkstatt des Schreiners Holzschuh spielte sich das wahre Leben ab. Dort, in diesem Hof, der für uns Kinder ein ganzes Universum war, verging die Zeit wie im Flug – mit Ursula, meiner Schwester, Monika vom Nachbarhaus und den wechselnden Gesichtern der Nachbarskinder. Später kamen zwar noch Helmut, Gerhard und unser Bruder Ralf dazu, doch die eigentliche Kindheit, die mit den kribbelnden Füßen von den Metallrollschuhen auf der „Striet“, den Hütten aus Decken und Kisten, dem „Kaufmann aus Paris“ und dem Gummitwist, gehörte nur uns dreien. Beerfelden, diese „Stadt am Berge“, hatte kaum ebene Flächen. Nur vor der Kirche und auf der „Striet“ konnten wir unsere Rollschuhe schnallen – diese klobigen Dinge mit Riemen, die nach fünf Minuten die Zehen taub machten. Doch der Hof war unser Reich: Wir bauten Unterstände, spielten „Ene mene Mu“, erraten Werbejingles, turnten an den Ringen vor der Garage, und ich gab Kasperltheater-Vorstellungen, während Tante Sophie uns mit ihrem „Buch der tausend Spiele“ versorgte. Und wenn wir nicht im Hof waren, dann mit Oma oder Sophie im Garten, zwischen Heidelbeeren und Pilzen. Doch die wahre Bühne war die „Rollgasse“, eine steile, kopfsteingepflasterte Straße, die im Winter zur perfekten Rodelbahn wurde. Jahre später, während meiner Friseurlehre, erlebte ich dort ein Schauspiel der besonderen Art: Ein plötzlicher Kälteeinbruch hatte alles in Eis verwandelt. Oben, am Anfang der Gasse, kämpfte „das Luisel“ – eigentlich Brunhilde – verzweifelt gegen die Schwerkraft. Sie zog die Schuhe aus, versuchte es in Socken – und sauste schließlich schreiend die Gasse hinunter, eine Mülltonne im Arm, als wäre es das normalste Ding der Welt. Der „Gärtner Berger“ mit seinem Milch- und Gemüseladen war ein weiteres Wunder. Ich holte dort oft Milch in der Zinkkanne, die an der genialen Zapfanlage gefüllt wurde: Ein großer Metallhebel, ein Strahl frischer, schäumender Milch, der Duft von Quark – „Schichtkäse“, fest und cremig, in Pergamentpapier gewickelt. Auf dem Heimweg schleuderte ich die Kanne im Kreis, ohne einen Tropfen zu verlieren. Im Sommer planschten wir im 12-Röhren-Brunnen, ließen Schiffe in der Ablaufrinne schwimmen, und Opa erklärte Besuchern mit einem Augenzwinkern, das Brunnenwasser mache alt. „Wenn ihr lange davon trinkt, werdet ihr sehr alt.“ Als Kind fand ich das dubios, heute weiß ich, was er meinte. Und dann war da der „Katzenbeiser“, der Metallwarenladen, das Textilhaus Seip mit seinen dunklen Holzschränken und der Fistelstimme von Frau Seip, der „Bundschuh“ mit Düngemitteln, die Volksbank, die Apotheke, der „Tröster“ mit Feinkost, der „Lebensretter“ (ein Reformhaus!), und ganz oben, am „Metzkeil“, dem Kommunikationszentrum Beerfeldens, wo sich alles traf, diskutierte und beobachtete. Dort gab es das „Kaffee Sattler“, den „Mehlheiner“ (ein modernerer Textilladen), und vor allem: die Eisdiele. Für zehn Pfennig ein Bällchen, plus ein kleiner „Eiszipfel“ obendrauf – das war Luxus. Abends ging ich mit Mama auf „Schaufensterbummel“, durch einen Ort, der florierte, der lebte. Heute, wenn ich durch die verfallenen Gassen gehe, wird mir wehmütig. Von all der Pracht ist kaum etwas geblieben. Doch die Erinnerungen – die Rollgasse, das Luisel, der Schichtkäse, der Metzkeil – die sind unsterblich.
Folge 007
Literarische Version – Sommer über Beerfelden (Joseph Roth-Stil)
Es war Sommer über Beerfelden. Nicht dieser scharfe, stechende Sommer der Gegenwart, der mit seiner Hitze droht und das Land auslaugt, sondern ein stiller, goldener, von Glockengeläut und Kinderstimmen durchdrungener Sommer. In den Küchen dampften die Töpfe, und über den Tellern zogen Wolken aus Trotz und kindlicher Empörung. Man roch Bohnen, Suppenknochen, den säuerlichen Atem des Essigs, und irgendwo, immer, die aufgewärmte Erinnerung an den vergangenen Sonntag. Ursula und ich – wir waren Verbündete und Gegner zugleich, ein kleines Königreich aus Geschwistern, das sich dem Regiment der Eltern widersetzte. Zwischen uns lag nie Hass, höchstens diese kleine, keimende Form von Stolz, die Kinder empfinden, wenn sie glauben, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Wir wussten, was richtig war, und alles, was Mama und Papa anordneten, musste sich daran messen lassen. Wenn der Löffel drohte, wurde das Bad zum Exil und die Toilette zur Zelle. Dort saß ich dann, mein Teller auf dem Deckel der Schüssel, und zwang mir den Inhalt hinunter, während Ursula nebenan im Bad hockte – ohne Toilette, dafür mit Fantasie. Ich war zu brav für den Aufstand, zu einfältig für den Trick, das Essen einfach zu entsorgen. Und doch war in uns beiden derselbe Trotz: das stille Wissen, dass das Unrecht nicht in der Suppe, sondern in der Anordnung lag, sie zu essen. Wer von uns beiden mehr litt, weiß ich nicht. Vielleicht sie, weil sie sich nicht helfen konnte. Vielleicht ich, weil ich es gekonnt hätte. So war das damals: wir lernten das Leben nicht aus Büchern, sondern aus der Temperatur der Suppe. Aus der Geduld der Mutter, der Strenge des Vaters, und aus den kleinen Siegen, die wir uns im Schatten ihrer Regeln erkämpften. Draußen im Hof wartete die Freiheit. Ein Reich aus Pflastersteinen, Sand, Brettern, leeren Marmeladengläsern. Da erfanden wir Spiele, bei denen keiner gewinnen konnte, und doch gewann jeder. Ursula und ich, wir waren ein Herz und eine Sandburg. Wir bauten, zankten, schrien, lachten. Im Sommer glitzerte die Rollgasse wie geschmolzenes Glas, und wenn wir vom Spielen heimkehrten, war der Schweiß auf der Stirn wie ein Orden. Unsere Nachbarschaft war eine Welt aus Stimmen: die Wielers-Mädchen, das Luisel, Helga aus der Brunnengasse. Ein Chor aus Lachen, Streit, Gekreisch. Die Erwachsenen standen in den Türen, wischten Hände an Schürzen und nickten: Kinder halt. Wir wussten, dass wir beobachtet wurden, aber das störte uns nicht. Wir waren Kinder, und Kinder sind wie Vögel – sie wissen, dass der Himmel ihnen gehört, auch wenn sie nur vom Hof aus hineinschauen. Im Sommer gingen wir mit Tante Sophie hinaus in den Wald. Sie war unsere Anführerin, Hüterin der Beeren und der Geheimnisse. Wenn sie sagte: Heute gehen wir Heidelbeeren pflücken, dann klang das wie ein königlicher Erlass. Der Weg führte durch warmes Gras, über Wurzeln, vorbei an Farnen, die nach Erde und Sonne rochen. Und wenn der Himmel sich plötzlich verdunkelte, suchten wir Schutz in den alten Schuppen der Bauern, hörten den Regen trommeln und Sophies Stimme, die Gedichte zitierte, als wären sie Zaubersprüche gegen das Wetter. Doch das Paradies meiner Kindheit lag tiefer – dort, wo das Tal sich senkte und das Wasser still stand: das Waldseebad. Ein Wunder aus Beton und Quellwasser, kühl und klar, so ehrlich wie alles, was von der Natur kam. Der Weg dorthin war weit. Man musste an Gärten vorbei, an Sträuchern, die von den Händen der Alten gestutzt, und von den Füßen der Kinder zertrampelt waren. Dann kam die Lindenallee, dann die Wolfsschlucht, und schließlich das kalte Glück. Das Wasser war kein freundlicher Geselle. Es prüfte uns. Wer hineinging, wurde geprüft auf Mut, auf Ausdauer, auf Hingabe. Ich hielt stand, bis meine Lippen blau waren, und Mama mich mit dieser Mischung aus Sorge und Stolz herausrief. Am Ufer zitterte ich, sah das Wasser glitzern wie Glas, und fühlte mich – ich weiß nicht – irgendwie gereinigt. Als hätte das kalte Wasser mir etwas erklärt, was Erwachsene nicht sagen konnten. Auf der Hangwiese, wo das Gras kniehoch stand, legten sich die Menschen in die Sonne. Sie lachten, tuschelten, riefen ihren Kindern zu. Und manchmal kam mein Cousin Rainer, dessen Haarpracht eine Tragödie für sich war. Er kam aus dem Wasser wie ein nasser Pfau: der Scheitel verrutscht, die Strähne im Gesicht, der Stolz ungebrochen. Mit einer einzigen, würdevollen Geste strich er das Haar wieder zurecht – als könne man die Ordnung der Welt mit einem Kamm wiederherstellen. Ich bewunderte ihn, ein wenig. Er war ein Held des Eigensinns, ein Don Quichotte des Haarsprays. Nur Wasser war sein Windmühlengegner. Später, wenn die Sonne sank, roch das Tal nach Gras und Holz. Die Mücken tanzten, und irgendwo klapperte eine Fahrradspeiche. Wir gingen heim, langsam, durch die Wolfsschlucht zurück, vorbei an den Schatten der Bäume, die sich über uns neigten wie alte Bekannte. Und während der Abend herabsank, fühlte ich mich unendlich reich. Reich an Geräuschen, Gerüchen, an Erinnerungen, die ich damals noch gar nicht als solche erkannte. Man sagt, die Kindheit ist ein Land, in das man nicht zurückkehren kann. Aber manchmal, wenn ich an heißen Tagen die Augen schließe, höre ich wieder das Quaken der Frösche, spüre das kratzige Handtuch, rieche das Sonnenöl auf Mamas Armen. Dann bin ich wieder dort, am Rand des Wassers, und die Welt ist heil. Vielleicht war es das, was Opa meinte, als er sagte: Lieber eine Glatze als gar keine Haare. Er wusste, dass man den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen muss – und dass Würde nicht darin liegt, etwas zu verbergen, sondern darin, es mit einem Lächeln zu tragen. So endet mein Sommer über Beerfelden: in der Erinnerung an Wasser, das zu kalt war, Suppe, die zu heiß war, und eine Schwester, die zur richtigen Zeit im falschen Raum saß. Und in dem Wissen, dass Glück nie laut daherkommt. Es sitzt still in einer Ecke, wie ein Kind nach dem Baden, eingewickelt in ein großes, raues Handtuch – und lächelt.
Folge 008
„Das Verfahren“ – literarisch, nach Franz Kafka
Es begann mit dem Pony! Nicht mit einem mechanischen Ungeheuer, nein, sondern mit realen, echten, im Kreis gehenden Tieren, in einem runden Zelt, das sich „Reitschule“ nannte und ein Pony, auf das man mich setzte, als gehöre ich bereits zu den Auserwählten. Doch ich war kein auserwähltes Kind. Ich war ein Kind, das stolperte. Und als ich stolperte, geschah es nicht auf den Boden, sondern in etwas Unfassbares: Mein Arm – dieser vertraute, gehorchende Teil von mir – stand plötzlich ab, als hätte eine unsichtbare Instanz beschlossen, ihn abzutrennen, wie eine überflüssige Akte in einem endlosen Archiv.Die Männer in weißen Kitteln handelten, als folge sie einem Protokoll, das niemand je gelesen hatte. „Ausgekugelt“, sagten sie mit der Gleichgültigkeit von Beamten, die täglich Hunderte solcher Fälle abwickeln. Dann kam das Chloroform.Es roch nicht. Es fraß. Es fraß die Luft, es fraß die Worte meiner Mutter, es fraß mich selbst und spuckte mich in eine Welt aus grellbunten, verzerrten Gesichtern, die mich anlachten, als wüssten sie etwas, das ich nicht wusste. Ich schrie, doch meine Stimme gehörte mir nicht mehr. Sie gehörte dem System. Dem Prozess, der längst über mich verhängt worden war. Der erste Gips war ein Irrtum. Der Arm heilte falsch, als hätte jemand die Anweisungen vertauscht – oder als wäre der Irrtum einkalkuliert gewesen. Also brachen sie ihn erneut. Diesmal steckten sie einen Metallstift hinein, eine Markierung, als wollte man mich für immer als Fehlstück kennzeichnen. Der Stift blieb. Der Schmerz blieb. Und die Striche an der Tür, die mein Vater jeden Tag zog, um meinen Fortschritt zu messen, waren wie die Eintragungen in einer Akte, die niemand je schließen würde. Als ich endlich den Arm wieder heben konnte – Millimeter für Millimeter, wie in einem bürokratischen Akt der Gnade –, war das Karussell weg. Abgebaut. Verschwunden. Als hätte es nie existiert. Als hätte ich mir alles nur eingebildet. Oder als wäre es nie für mich bestimmt gewesen. Ein Jahr später, beim Autoscooter, prallte ich gegen die Haltestange. Das Blut, das mir über das Gesicht lief, war wie die Unterschrift unter ein Dokument, das besagte: Du hast keine Wahl. Ursula stand daneben und sah zu, wie ich blutend aus dem Wagen kletterte. Sie sagte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen? Wir wussten beide: Es war schon immer so gewesen. Und es würde immer so sein. Abends standen wir am Fenster und starrten auf den Springbrunnen, auf die Menschen, die unten ihren Alltag lebten, als gehöre ihnen die Welt. Ursula nannte es „Betz“ – dieses Zornige in ihr, das nach Gerechtigkeit schrie. Ich nannte es Warten. Wir warteten. Auf Erlösung. Auf Sinn. Auf etwas, das nie kam. Und das Karussell? Es war weg. Spurlos. Als hätte es nie gegeben. Als hätte niemals jemand darauf gesessen. Als hätte niemals jemand gestürzt. Vielleicht hatte es das auch nicht. Vielleicht war ich der Irrtum. Vielleicht war alles nur ein Traum des Systems – und ich sein letzter Zeuge.“