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Folge 001
Ich wurde am 13.09.1956 nachts bzw. morgens um 03:15 zu Hause geboren.
Ich war etwas früh dran, aber Mama schaute sich am Abend zuvor in der Kneipe von Opa einen im Fernseher übertragenen Boxkampf (Carmen Basilio vs. Johnny Saxton II [1956-09-12]) an, und das hat mich offenbar angeregt, das Licht der Welt erblicken zu wollen.
Mein Großvater war Wirt und „Rasierer“ und (ja, wirklich) auch noch Puppen-Doktor. Meine Großmutter war nur Wirtin und managte den Haushalt. Papa war Friseur und machte leidenschaftlich Sportakrobatik. Er war in meiner Kindheit gefühlt mehr auf den Händen als auf den Füßen. Mama war Friseurin, Mutter und kümmerte sich um den Haushalt. Ich habe eine 2 Jahre ältere Schwester und einen 8 Jahre jüngeren Bruder. Meine Schwester wurde ebenfalls Friseurin. Die Schwester meines Vaters ist Friseurin, und der Bruder meiner Mutter war Friseur. Da war es wohl unabwendbar, dass auch ich in diese Fußstapfen trat.
Alles in allem war meine frühe Kindheit so, dass ich nicht darüber klagen kann. Eher meine Eltern hatten Grund dazu. Ich war ziemlich anstrengend. Und sehr auf Mutter fixiert. Keiner durfte an mir irgendetwas machen. Nur Mama. Einmal zog mir Papa die Schuhe an, weil es schnell gehen sollte. Daraufhin machte ich ein riesiges Theater und bestand auf: „Papa Schuh ausziehn, Mama Schuh anziehn.“ Immer wieder, bis meinem Ansinnen Folge geleistet wurde. Andererseits war ich pflegeleicht und schlief sofort ein, sobald ich im Kinderwagen lag und der geschoben oder geschaukelt wurde. Das ist bis heute so. Kaum sitze ich als Beifahrer im Auto, im Bus, im Zug oder im Flugzeug, schon fallen mir die Augen zu. Ich liebe es, mit Menschen um mich herum, einer gewissen Geräuschkulisse und etwas Schaukeln einzuschlafen. Ansonsten war ich als Kind allerdings ziemlich selbstzerstörerisch. Ich rannte mit dem Kopf gegen die Lehne vom Küchenstuhl, beim Auto-Scooter auf die vordere Haltestange, fiel von der Parkbank, fiel vom Pferd, hatte ständig offene Knie und überall Macken. Jedes Mal musste Mama kommen und mich aufheben. War jemand anderes zur Stelle, dann warf ich mich wieder hin und verlangte nach Mama……. Anstrengend!
Zuweilen fühlte ich mich als kleiner Junge wie ein Mädchen. Ich zog die Röcke meiner Schwester an, setzte eine Perücke aus dem Friseurladen meiner Eltern auf und lief so durch das 3000-Seelen-Dorf, in dem ich aufwuchs. Ich spielte dann lieber mit Puppen als mit meiner elektrischen Eisenbahn, lernte häkeln, sticken und stricken und kleidete meine „falsche“ Barbie-Puppe (es war eine Billig-Kopie namens Erika, die ich von Tante Sophie bekommen hatte) neu ein.
Aus der heutigen Sicht muss ich sagen, dass ich sehr, sehr froh bin, dass in den frühen 60er-Jahren noch nicht diese „Pseudo-Aufgeklärtheit“ herrschte wie heute. Wenn ich sehe, dass schon kleine Kinder von ihren Eltern in dem Glauben, im falschen Körper geboren worden zu sein, unterstützt werden, wundere ich mich doch sehr. Hätte ich damals solche Eltern gehabt, die meinen Wunsch, mir Röcke anzuziehen und Perücken aufzusetzen, so interpretiert hätten, dass ich im falschen Körper lebe, einen Sex-Change wünschen würde, und mich in diesem vermeintlichen Wunsch unterstützt hätten, dann kann ich nicht sagen, ob ich ein ähnlich zufriedenes Leben hätte führen können, wie es mir gegönnt war. Klar, ich wäre irgendwie gerne ein Mädchen gewesen – oder besser gesagt: Ich fühlte mich als solches. Ich fühlte mich aber niemals als im falschen Körper lebend. Nein, der Körper war vollkommen in Ordnung. Und was spricht dagegen, als Junge eher mädchen-typische Bedürfnisse zu verspüren? Ich hatte als kleiner Junge nicht diese Unterscheidung zwischen Junge und Mädchen im Kopf. Ich war, was ich war, das war in Ordnung, und manchmal fand ich es schön, den Rock meiner Schwester oder das Ballkleid von Tante Sophie anzuziehen und in eine andere Rolle zu schlüpfen. Denn genau das war es – und nichts anderes: nicht das Gefühl, ein Mädchen sein zu wollen. Es gab in meinem Kopf keine Geschlechtertrennung, ich war sozusagen beides in einem. Aber wie soll man das in diesem Alter ausdrücken können?
Wäre ich dann falsch verstanden worden und nach einer schlimmen Hormontherapie und operativen Eingriffen in ein Mädchen, eine Frau verwandelt worden, hätte ich ganz sicher massive psychische Belastungen ertragen und verarbeiten müssen. Ich kann wirklich nicht sagen, ob Eltern, die ihre Kinder so früh in dieser Richtung „unterstützen“, ihnen einen Gefallen tun. Wenn man später, als erwachsener Mensch, zu erkennen glaubt, dass man mit seinem Geschlecht nicht einverstanden ist und sich den harten Veränderungsprozessen unterwirft, dann ist man auch vollumfänglich selbst verantwortlich dafür, wie sich durch einen solchen Eingriff das weitere Leben und der psychische Zustand entwickeln. Natürlich fallen in diesem Fall die körperlichen Anpassungen nicht so gut aus wie bei einem frühen Eingreifen, aber ich kann wirklich nicht sagen, ob es für die psychologische Entwicklung wirklich besser ist.
Für meinen Teil bin ich unglaublich froh, ein Mann geblieben zu sein, und ganz spielerisch oder künstlerisch in verschiedene Rollen schlüpfen zu können. Ich hatte Phasen in meinem Leben, da fühlte ich mich der sogenannten passiven Rolle zugehörig, dann viele Jahre wollte ich definitiv nur die aktive, die männliche Rolle übernehmen, und schließlich wurde ich nur noch Walter und in sexueller Hinsicht eindeutig divers. Beide Seiten gehören gleichermaßen zu mir. Entscheidend ist, mit sich selbst, mit seinem Körper und seiner Seele im Reinen zu sein – ganz egal, welche Rolle man gerade spielt oder spielen möchte.
Jetzt bin ich mal wieder etwas abgeschweift, aber bei diesem Thema bin ich wirklich nicht sehr entspannt. Wäre es nicht viel besser, im Falle, dass das eigene Kind sich in einer Situation befindet, in der es die klassische Rollenverteilung nicht für sich akzeptieren kann oder will, dem Kind jegliche Unterstützung zuteilwerden zu lassen, dass eine Rollenverteilung, die Übernahme einer Rolle nicht vom Körper determiniert wird, sondern eine mentale Sache ist? Wäre es nicht eine viel größere Befreiung für eine sich eingesperrt glaubende Seele, ihr klarzumachen, dass es keine Bedingung für die Art, sich zu kleiden, die Art, sich zu fühlen, die Art, sich zu verhalten, gibt, die an das Geschlecht gebunden ist? Man kann sich als Mädchen fühlen wie ein Vater und als Junge wie eine Mutter – da gibt es doch gar keinen Unterschied.
So, jetzt ist es für heute diesbezüglich genug, und ich stöbere kommende Woche wieder weiter in meiner Kindheit.
Folge 002
Da war ich nun also, der kleine Walter in den Armen der Welt der 50er-Jahre. Schon bald nach meiner Geburt zog unser 4-Gespann in das In den Hang gebaute Hinterhaus, das immer nur „Hinnedrowwe“ genannt wurde. Hinnedrowwe bedeut so viel wie Hinten, Oben, aber das dachtet ihr euch bestimmt schon. Man ging vom Geschäftshaus über den Hof, den wir mit dem „Brunnenbäcker“ und der Familie Holzschuh teilten, zum Hinterhaus und konnte dieses nach 3 oder 4 Stufen durch die Haustür betreten und stand doch im Keller. Gleich rechts gelangte man über die Treppe in den ersten Stock in dem der Flur durch eine Schiebetür am ende der Treppe vom Eingang abgetrennt war. Türen waren Papa immer sehr wichtig, war er doch höchst Zugempfindlich. Direkt gegenüber der Schiebetür war der Eingang in die Küche. Rechts von der Schiebetür war eine kleine Toilette und ein kleines Stück weiter der Eingang in das kleine schmale Bad mit seinen rosaroten Kacheln. Über dem Fußende der Badewanne hing der mit Heizöl betriebene Badeofen. Der heizte den Raum und das Badewasser, man konnte die offene Flamme der Brennkammer sehen und ich armer Wicht durfte Beim Baden immer unter dem Badeofen auf dem Abflussstöpsel sitzen, weil mein Schwesterherz den Logenplatz am anderen Wannenende beanspruchte. Beim Baden roch es im Bad immer nach einer Mischung aus Heizöl, das zwar eher unterschwellig, aber wahrnehmbar und Schaumbad. das Baden war immer ein großes Ereignis und fand in der Regel Freitagsabends statt. Was ich beim Baden total blöd fand, waren diese grünen Brausetabletten, die auch nach dem Auflösen immer einen sandigen Rückstand hinterließen, auf dem es sich nicht angenehm sitzen ließ. viel besser fand ich, fanden wir das beliebte „Algemarin Drachengrün“. Es kam schon vor, dass wir uns damit komplett grün eingeschmiert hatten und Mama einen Nervenzusammenbruch erlitt, weil es ewig dauerte das grüne zeug von uns abzuspülen. Schaum in der Wanne war bei uns immer sehr beliebt. Da konnte man Berge bauen und sich Schaum Frisuren auf den Kopf zaubern. An der Wand hinter der Wanne, etwa in Wannenmitte gab es eine Kachel, die gleichzeitig eine Seifenschale war. In der Mitte der Ausbuchtung für die Seife gab es unten eine kleine Öffnung, durch die das Wasser abfließen konnte. das war raffiniert und eignete sich gut zum spielen. oben drückten wir mit dem nassen schwamm das Wasser in die schale und fingen es darunter mit dem Zahnputzbecher auf. damit konnten wir uns gefühlt stundenlang beschäftigen. dagegen war die seife immer das ende unserer schaumberge. kaum kam die seife ins spiel, zerfielen die schaumberge zu nichts. bei unseren Badeexzessen gab es regelmäßig Überflutungen im Minibad, aber schön wars! Mama hatte dann das Vergnügen, alles wieder trocken zu legen, einschließlich uns beiden.
Am rechten Ende des Flurs ging es ins Wohnzimmer, das ich in einer anderen Folge passend beschreiben werde. An die Kücheneinrichtung erinnere ich mich Schemenhaft, mal abgesehen vom Schuhschrank, der ein wichtiges Spiel-Utensil für uns war. Im Dunst der Erinnerung sehe ich einen Esstisch mit diesen dünnen, leicht gespreizten Holzbeinen und einer Resopalplatte mit 4 Stühlen. Raumbestimmend und noch sehr gut in Erinnerung ist der alte Küchenschrank in geschwungenen Formen. auf dem etwas tieferen Sockel stand der etwas weniger tiefe Oberschrank, dessen Türen gerne ein wenig klemmten, aber vielleicht kombiniere ich das auch falsch, weil genau dieser Schrank noch bis vor kurzem im Gartenhaus meiner Eltern 0stand und dort ein etwas verzogenes weiterleben hatte. Die Küche hatte keine Tapete, sondern die glatte wand war mithilfe einer -ich nenne es mal so- Musterrolle, also eine farbrolle, die eine Prägung in strich oder blümchenform hatte, farblich gestaltet worden. Das war damals häufig der Fall. Fragt mich aber bitte nicht nach dem Bodenbelag. Wahrscheinlich war es Stragula oder Linoleum. An der Wand über den Waschbecken hing ein Unterdruck-Wasserboiler in Bordeaux-rot mit Glasbehälter. Ein wichtiges Detail noch: vor der Küche in ‚Richtung Hof gab es einen Balkon. Ja, richtig gehört, ein Balkon. der war über der darunter befindlichen Garage. Während am anderen Ende des Flurs das Wohnzimmer sozusagen im Felshang steckte.
Am linken Ende des Flurs ging es rechts auf den Balkon vor der Küche und links die Treppe nach oben in die Schlafgemächer.
Gleich am oberen Ende dieser Treppe lag die „long Stuwwe“, die lange Stube, das Zimmer meiner Schwester. Ein schmaler langer Schlauch in dem gerade das Bett, ein Schrank, ein Stuhl und später ein Jugendzimmer-Sekretär für die Schularbeiten Platz fanden. Nach links kam man in mein Zimmer in der Dachschrägen das wiederum durch eine Glas-Schiebetür vom Elternschlafzimmer getrennt war. Das war bestimm praktisch, solange ich ein Säugling war, aber etwas später hielt es Papa und Mama eventuell etwas von ihren ehelichen Pflichten ab. Trotzdem schafften sie es 7 Jahre später meinen Bruder Ralf zu zeugen, der dann im Juli 1964 nach einer Risikoschwangerschaft einen Tag nach Papas Geburtstag im Krankenhaus in Eberbach das Licht der Welt erblickte. Aber später mehr, noch sind wir ja zu dritt und erst vor kurzem hinne-nuff gezogen. Und das genialste kommt jetzt! Zwischen der long-Stuwwe meiner Schwester und dem Schlafzimmer der Eltern (Ebenholzfarbenes Ehebett Marke „gewaltig“ und ebenholzfarbiger 4-türiger Kleiderschrank ebenfalls Marke gewaltig nebst ebenholzfarbigem ebenfalls gewaltiger Kommode, alles mit gerundeten Formen) führte ein schmaler Flur hinaus in den Garten. Ja! echt! vorne die Dachschräge, hinten der Garten. Verrückt und doch wunderschön. Mit Terrasse, Gemüsebeeten, Blumen, rechter Hand begannen die Dächer der Nachbarn, linker Hand und gegenüber des Ausgangs in den Garten war sozusagen der Kellerstock der Nachbarn von oberhalb.
und hier waren wir jetzt und blieben hier bis zur Geburt meines Bruders Ralf. In der Garage stand Papas Gogo-Mobil und wurde wenig später durch die Dauphine ersetzt. Ein Renault Dauphine, Papas ganzer Stolz.
Folge 003
Eine Lieblings-Erinnerung ist die, an einen sehr warmen, später drückend-schwülen Sommertag. Wir waren im Hof, bauten uns einen Unterschlupf und spielten „Ich bin ein Kaufmann aus Paris“, ein Spiel, bei dem wir Farben, Kleidungsstücke und Sonstiges raten mussten, oder „Heiteres Werbemelodie erkennen“, bauten Sandburgen und machten Gummi-Twist. Am späteren Nachmittag kam ich nach dem schönen Tag im Hof, wohlig erschöpft nach Hause, wurde gewaschen und durfte dann abends in mein frisch bezogenes, nach sauberer Wäsche duftendes Bett, während draußen ein heftiges Gewitter losbrach. In diesem Moment fühlte ich mich so unglaublich behütet und gut aufgehoben, in meinem gemütlichen Bett, gemeinsam mit meiner alten Kuschel-Decke, die ich wie Linus von den Peanuts den ganzen Tag mit mir herumschleifte. Wenn diese Decke gewaschen wurde und nicht mehr roch wie sonst, dann ging die Welt für mich unter und ich musste die Decke noch enger an mich schmiegen, damit sie wieder den üblichen Geruch annahm. Ich denke so an diese bei Gewitter, gemütlich im Bett-Situation, weil mir diese Erinnerung ein ganz tiefes Gefühl der Geborgenheit vermittelt.
Eine weitere Szene werde ich auch nie wieder vergessen: Unser Nachbar hielt im Schuppen hinten am Hof unter anderem auch immer mal ein Schwein, mit dem wir im Hof spielten. die Schweine waren sehr schlau! sie waren schlauer und vor allem freundlicher als der Hund vom Nachbarn. Das Schwein sprang nach ein wenig Training durch den Hoola-hoop-reifen, ließ sich einen Hut aufsetzen und einen rock anziehen. Und dann musste es dran glauben. Heini, unser Haus Metzger kam und das schwein ohne namen hing einige zeit später am Torrahmen des Nachbar-Schuppens neben unserer Garage, wurde gebrüht, rasiert, zerlegt. Für uns was das einigermaßen normal. Mich faszinierte vor allem, wenn die Sau über dem Wasserdampf hing und von Heini mit so einem trichterförmigen gerät rasiert wurde. Auch faszinierend und etwas ekelig fand ich außerdem wie Heini die Därme entleerte, umstülpte, also das innere des Darms nach außen brachte und wusch. Das machte er in einer für mich unvorstellbaren Geschwindigkeit. Schon eigenartig, an was man sich so erinnert!.
Dann war die sau zerlegt und ich suchte im Hof nach Monika, und fand sie in der Wurstküche vom Nachbarn. Dort stand sie am Herd, rührte das Schweineblut, welches durchsetzt mit Speck-Grieben war und das sie mit scharfem Pfeffer, auf den sie allergisch reagierte würzte. Wenn Monika Pfeffer in die Nase bekam, dann reagierte sie mit Nasenbluten. Da stand sie also und wischte sich das Nasenblut mit den Unterarmen, die bereits Blutverschmiert waren aus dem Gesicht, zog dabei die immer wieder die Nase hoch und rührte mit dem riesigen Holzlöffel in der Blutbrühe. Ein Bild wie aus Dantes Inferno. ich wollte nur schreien und davonlaufen. Was außer der Erinnerung an diese Szene blieb, ist eine unüberwindliche Aversion gegenüber Blutwurst und andere tierische Produkte im allgemeinen. Monika hatte offenbar eine ganz besondere Verbindung zu Blut, egal ob vom Schwein im Topf oder mein geronnenes Blut am Knie…..
Als Kind liebte ich diese vielen kleinen Rituale. So zum Beispiel das Samstägliche Mittagessen. Oma kochte dann bei uns im Geschäftshaus. weil Samstags nur bis 14 Uhr gearbeitet wurde und viel Los war, aßen die Mitarbeiter*innen der Eltern bei uns mit. Oma machte dann häufig ihre legendäre dicke Gemüsesuppe oder diese tolle dunkle Suppe mit den dicken, roten Bohnen, die ich ganz besonders liebte. Zu der Suppe gab es, – und das war; und in bestimmten Kreisen ist es das bestimmt auch noch, typisch für den Odenwald – Hefekuchen, belegt mit Äpfeln, Pflaumen oder Heidelbeeren. Mir schmeckte der mit Pflaumen belegte Hefekuchen am besten. Besonders, wenn die Pflaumen beim Backen etwas Flüssigkeit abgaben und diese dann am Rand ein wenig eingekocht war. es war so ein bitter/süßer, leicht verbrannter Geschmack. Allein dieser Duft! Hefig, pflaumig mit leichten Röstaromen. Ein Traum! Oder es gab statt dem Kuchen dann auch mal Apfelpfannkuchen zur Suppe. Apfelscheiben im Pfannkuchenteig ausgebacken. Lecker. Aber am allerbesten schmeckte mir zur Suppe der Kirschmichel. Der Kirschenmichel bestand im Wesentlichen aus altbackenen Brötchen oder Brot, die mit Butter, Milch, Ei und Zucker zu einer Teigmischung verarbeitet wurden. die Süßkirschen oder auch Sauerkirschen wurden untergehoben und das ganze als Auflauf im Ofen gebacken.
Manchmal gab es den Kirschenmichel auch alleine mit Vanille-Soße. Oder Oma machte „Erdrüben“ – das ist eine Art Püree aus Steckrüben – mit Kochfleisch. Das Fleisch war nicht so meine Sache, dafür aber zwei Teller voll mit Erdrüben!
Neben dem Samstäglichen Essen, liebte ich es mit Frau Milke, unserer sehr rabiaten Putzfrau, mittags Kaffee zu trinken. Überhaupt begann ich schon sehr früh mit der Kaffeetrinkerei.
Ich war höchstens 10 oder 11 Jahre alt als Kaffee zu meinem Lieblings Getränk wurde. Auf jeden Fall saß ich dann total gerne mit Frau Milke am Küchentisch, unterhielt mich mit ihr über dies und jenes,
aß besonders gerne Brot, mit von Mama selbst gekochtem Pflaumenmus oder sonstigen Marmeladen aus Mamas so genannten „Fliegenschrank“. einem Schrank mit Fliegengittertüren, der im Vorratskämmerchen stand, welches immer Vorräte für mindestens 4 bis 6 Wochen barg. Das war einfach so in der Kriegsgeneration meiner Großeltern und Eltern verankert.
Ein weiteres Ritual war das Freitägliche Baden. Freitags wurde der große Öl-Badeofen angeworfen und dann ging es der Reihe nach Baden. Anders als bei Tante Sophie über die ich noch berichten werde, bekam aber jeder von uns eine frische Wanne voller heißen Wassers. Auch das Sonntägliche Mittagessen war ritualisiert.
Zuerst gingen wir in den Kindergottesdienst, der oft von der Schappskarls Liesel gehalten wurde. Vor allem dafür, dass wir Mama nicht beim kochen störten! Zum Sonntags-Mittagessen saßen wir dann statt in der Küche, im Wohnzimmer am „Auszieh-Couchtisch“ den man auch noch in der Höhe verstellen konnte. während des Essens gab es immer den „internationalen Frühschoppen“ im Fernseher, die legendäre Sendung mit Werner Höfer und sieben Journalisten aus 6 Ländern, die rauchend und Wein trinkend in der Runde saßen und über die aktuellen Weltpolitischen Dinge, die mich damals überhaupt nicht interessierten diskutierten. Deshalb durften wir während des Essens nicht reinreden!
Zu essen gab es häufig Brathähnchen mit Pommes und Kopf- oder Endivien-Salat mit Sahnesoße oder Sauerbraten mit Klösen und Rotkraut, oder Rinderbraten mit Kartoffeln. Natürlich alles selbstgemacht. Na, nicht ganz! Zuweilen griff Mama auch zu Semmelknödeln aus der Tüte. Aber die liebte ich auch! Zum Rinderbraten dann frisches saisonales Gemüse aus dem Garten und Rapunsel-Salat.
Das Sonntägliche Spaziergeh-Ritual gefiel mir allerdings nicht so besonders. Da wurden meine Lackschuhe staubig und mir schmerzten die Beine. Überhaupt, was sollte das? Da musste man nur laufen um wieder nach Hause zu gehen. Verstand ich nicht! Wenn man irgendwo einkehrte war das ja in Ordnung, aber dieses sinnlose Rumgelaufe. Nöööö! Auf jeden Fall bestand ich vor diesem leidigen Spazierengehen darauf, dass meine Beine mit Franzbrantwein eingerieben wurden bevor wir losgingen. Dann schaffte ich es einigermaßen. Und wehe diese Vorbereitung wurde in der Hektik mal vergessen und ich erinnerte mich beim Spazierengehen daran, dass meine Beine nicht präpariert waren! dann wurde es sehr unschön für alle. Dann konnte ich von einem Augenblick zum nächsten keinen Schritt mehr vor den Anderen setzen. Im schlimmsten Fall musste ich getragen werden. Tja, Strafe muss sein!
Folge 004
eine sehr wichtige person in meiner kindheit war meine großtante sophie. Sie war für mich der liebste mensch auf der ganzen weiten welt. sie hatte einfach für jeden und alles verständnis.
ich durfte ihr hochzeitskleid und ihr rotes ballkleid tragen, durfte bei ihr mit freunden theaterinszenierungen aufführen, oder auch vor ihrer wohnung für die nachbarn eine kasperl-theater-aufführung geben. ich durfte kochen, feuer machen, bonbons aus zucker und dosenmilch herstellen und einfach ein glücklicher junge sein. tante sophie war eine wucht!
Sophie machte damals mit ihrem Mann „Heimarbeit“. Sie steckte für die örtliche Bürstenfabrik kleine Metallstifte in rote, ovale Gummiteile. Auf die Seite der gummiteile, wo nach dem durchstecken der Drahtstifte die Nagelköpfe zu sehen waren, wurde mit Leim ein Stück Leinen aufgeklebt. ich sehe die großen Metalleimer mit dem Metalldeckel und der Metallspange, die man zum sicheren Verschließen der Tonne zudrücken musste, gefüllt mit dem gummiartigen Leim noch genau vor mir. Vor allem habe ich noch den Geruch des Leimes in der Nase, als würden wir gerade mit dem dicken Pinsel den Leim auf die Gummiteile pinseln. Den ganzen Prozess nannte Tante Sophie „Stifteln“.
Die Gummiteile mit den Drahtstiften wurden dann in der Fabrik auf Holzteile, die der Bürstenkopf und Stiel der späteren Bürste waren, befestigt. Schon waren die Drahtbürsten fertig.
Beim Stifteln durfte ich helfen, aber ich war nicht besonders schnell und verlor dafür um so schneller die Lust daran.
Was ich bei Tante Sophie auch durfte, war, mit ihrem alten Lockeneisen in ihre wenigen, dünnen, mit Grau durchzogenen Haaren Locken machen. Die Lockeneisen wurden im oder auf dem Herd erhitzt und ich verbrannte mir oft die Finger oder Tante Sophies Haare oder auch ihre Stirn. Sie war immer für alles zu haben und sich für nichts zu gut.
Tante Sophie arbeitete früher als Kammerzofe im Schloss des Grafen Erbach Erbach und erzählte mir gerne Schauergeschichten aus dieser Zeit. Bei Gewitter, die es in meiner Kindheit des öfteren gab erzählte sie mir auch oft schlimme Geschichten von brennenden Häusern, in denen alles zurückgelassen werden musste und dergleichen. Ganz besonders gerne rezitierte sie das Gedicht
„Gewitter“ von Gustav Schwab:
„Urahne, Großmutter, Mutter und Kind In dumpfer Stube beisammen sind; Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt, Großmutter spinnet, Urahne gebückt Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl. – Wie wehen die Lüfte so schwül! Das Kind spricht: »Morgen ist Feiertag, Wie will ich spielen im grünen Hag, Wie will ich springen durch Tal und Höhn, Wie will ich pflücken viel Blumen schön; Dem Anger, dem bin ich hold!« – Hört ihr’s, wie der Donner grollt? Die Mutter spricht: »Morgen ist’s Feiertag, Da halten wir alle fröhlich Gelag, Ich selber, ich rüste mein Feierkleid; Das Leben, es hat auch Lust nach Leid; Dann scheint die Sonne wie Gold!« – Hört ihr’s, wie der Donner grollt? Großmutter spricht: »Morgen ist’s Feiertag, Großmutter hat keinen Feiertag, Sie kochet das Mal, sie spinnet das Kleid, Das Leben ist Sorg und viel Arbeit; Wohl dem, der tat, was er soll!« – Hört ihr’s, wie der Donner grollt? Urahne spricht: »Morgen ist’s Feiertag, Am liebsten morgen ich sterben mag; Ich kann nicht singen und scherzen mehr, Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer; Was tu ich noch auf der Welt?« – Seht ihr, wie der Blitz dort fällt? Sie hören’s nicht, sie sehen’s nicht, Es flammet die Stube wie lauter Licht: Urahne, Großmutter, Mutter und Kind Vom Strahl miteinander getroffen sind; Vier Leben endet ein Schlag, – Und morgen ist’s Feiertag.“
gruselig!
Obwohl Tante Sophie selbst nicht viel Geld zur Verfügung hatte, weshalb Onkel Wilhelm und Tante Sophie ja auch „Stifteln“ mussten, um über die Runden zu kommen, konnte sie mir keinen Wunsch ausschlagen und hätte mir auch noch ihre letzten Pfennige geschenkt, damit ich glücklich ware. ich kann wirklich nur schönes, wenn auch zum teil schräges von ihr berichten.
Tante Sophie ging oft mit uns in den Wald. Im Sommer pflückten wir Heidelbeeren. da roch es nach dem trockenen waldboden, nach farn und laub. oft war es sehr warm (auch wenn es bestimmt noch nicht so schlimm war wie heute) und oft auch gewittrig. wenn dann ein unwetter losbrach, suchten wir zuflucht bei bauern oder in irgendwelchen schuppen in der nähe. da sagte sie dann immer: buchen sollst du suchen, vor eichen musst du weichen.
einmal hatte ich fürchterlichen durst und tante sophie ging mit uns zum bauern und fragte dort nach etwas zum trinken. da die frau vom bauern gerade beim melken war, bekam ich einen Becher, soeben gemolkener Milch. Das war für mich ganz schlimm! körperwarme voll-fett milch direkt aus der kuh, im nach kuh duftenden stall. vielen dank! da blieb ich lieber durstig.
Wenn wir keine Heidelbeeren pflückten sammelten wir Holz für Tantes Holzöfen oder im Frühjahr auch Maikäfer, die dann Opas Hühnern zum frass vorgeworfen wurden. Sophie wohne in der Gammelsbacher Straße im Haus vom Fotografen Helm, wo wir gelegentlich Familienfotos von uns machen liesen. Das war immer eine schwierige Sache, bis alle so saßen wie sie sollten, wie zum beispiel für das wunderbare Foto zu Tante Herthas Hochzeit, wo Ursula und ich die Blumenkinder waren.
Wenn wir mal übers Wochenende bei Tante Sophie blieben, dann durften wir dort auch Baden, was eine ganz besondere Attraktion für uns war. In der Gammeslbacher Straße gab es kein Bad. Tante Sophie stelle eine Zinkwanne in der Küche auf und erhitzte wasser auf dem Küchenherd in großen Töpfen, auf dem am linken Rand immer ein in die Herdplatte eingelassener Topf mit einer grauen, bitter riechenden Flüssigkeit, die von Tante Sophie als „Kaffee“ bezeichnet wurde,vor sich hin brühte. Davon aber gleich mehr, erstmal geht es um den Badespaß. War die Zinkwanne gefüllt, durften zunächst Ursula und ich ins Wasser, wurden eingeseift und abgespült. Soweit so gut.
Dann stiegen Onkel Wilhelm, tante sophie und schließlich Onkel Jakob, der ein Zimmer in Tante Sophies Wohnung hatte, aus dem er nur sehr selten heraus kam, in die Brühe. Damit aber nicht genug. Am Ende der Badezeremonie musste das nicht mehr so klare Wasser auch noch zum Waschen der Wäsche herhalten. Da durften wir die Wäschestücke über das Waschbrett schrubben und mit kernseife einseifen. Ich fand es immer sehr merkwürdig,
Onkel Jakobs Taschentücher zu waschen. Im trockenen Zustand waren sie etwas störrisch und hart, aber wenn sie mit wasser in berührung kamen, dann wurden sie irgenwie klitschig und schleimig. Sehr eigenartig!
Okay, einige Jahre später erinnerte ich mich daran und dann konnte ich mir auch erklären wie das kam. Ich führe das jetzt nicht weiter aus.
Aber zurück zum Ofen mit dem Einlasstopf und dem Kaffee. Am häufigsten
nahm sich Onkel Jakob von der seltsamen Brühe. Jakob hatte eine für mich etwas befremdliche Angewohnheit. Zum Frühstück schnitt er sich gerne ein dickes Stück Brot ab, schmierte fett die Butter darauf, und belegte es mit einer dicken Scheibe salami. Für all das benutzte er sein rotes, schweizer Taschenmesser, ohne das ich mir Jakob nicht vorstellen kann. Mit dem Taschenmesser schnitt er sodann das belegte Brot in kleine Stücke, er nannte es „Reiter“ und diese beförderte er in seine große, mit diesem grauen Trunk gefüllte Kaffeeschale. Da schwamm dann das Brot mit Butter und Salami in der Brühe und Onkel Jakob löffelte das ganze genussvoll und vor allem lautstark schlüfend aus. Dazu muss man sagen, dass Jakob nur noch ein paar ganz vereinzelte Zähne hatte. Ja, er war etwas speziell und wir Kinder bekamen immer gesagt, dass wir Jakob in Ruhe lassen sollten. Da Jakob uns aber sowieso immer etwas komisch vorkam, hatten wir kein besonderes Interesse an Kontakt mit ihm. Soviel sei gesagt: Er hatte während des dritten Reiches eine sehr sehr schwierige Zeit. Tante Sophie gab ihm aber Zuflucht und war für ihn da. Er war Schreiner, und einige seiner Arbeiten standen in Sophies Wohnung. Schon als Kind sagte ich immer zu ihr, dass ich den Kleiderschrank, den tollen schweren Schreibtisch und den roten Holz-Sekretär nebst Stühlen sehr gerne erben möchte.
Und so kam es, dass die alten, lieb gewonnenen Möbelstücke mehrmals mit mir umgezogen sind und mich noch heute begleiten.
Tante Sophie war bis ins hohe alter doch ziemlich Eitel. Wenn sie merkte, dass jemand Fotografierte, dann holte sie sofort ihr Gebiss aus der Jackentasche und steckte es sich in den Mund, damit dieser nicht so eingefallen aussah. Wenn mal einem von uns Kindern die Nase lief, dann zog sie ihr Taschentuch aus der Jacken- oder Rocktasche und dabei flog ihr Gebiss dann des öfteren durch die Gegend, denn ihr Gebiss war viel häufiger in der Tasche als in ihrem Mund.
Wie gerne würde ich Tante Sophie heute in den Arm schließen, sie fest an mich drücken und ihr sagen wie sehr ich sie lieb hatte. Wenn es Engel gibt, dann war sie einer.
Im hohen Alter wurde Sophie dement und fristete ihre letzten Monate in einem Altersheim.
Folge 005
Im Hof, zwischen dem Vorderhaus, in dem früher die Gaststätte und der Friseurladen von Opa und später nur der Friseurladen war, dem Haus vom „Brunnenbäcker“ Ihrig, dem Stall vom Brunnenbäcker, „Hinne-drowwe“, unserem Hinterhaus, der Werkstatt vom Schreiner Holzschuh und dessen Wohnhaus, spielte sich der größte Teil meiner Schwester, des Nachbarkinds Monika und meiner Kindheit ab. Später kamen noch die Brüder von Monika, Helmut und Gerhard, und unser Bruder Ralf dazu. Aber meine eigentliche Kindheit fand ohne die drei Spätkömmlinge statt. Zu uns drei „Hofkindern“ kamen noch wechselnde Kinder aus der direkten Nachbarschaft hinzu.
Es war wirklich eine Bilderbuchkindheit.
Beerfelden wird auch „die Stadt am Berge“ genannt, weshalb es im Ort auch fast keine ebene Fläche gibt. Eine kleine Fläche vor der Kirche und dann „die Striet“, eine Straße an der Grundschule, waren so ziemlich die einzigen ebenen Stellen, wo wir zum Beispiel Rollschuh fahren konnten – die damals noch Metallräder hatten und mit Riemen unter die normalen Schuhe geschnallt wurden. Nach kurzer Zeit des Fahrens damit hatte man kribbelnde Füße. Im besagten Hof bauten wir uns oft Hütten oder Unterstände aus Decken, Stangen, Kisten, spielten „Ich bin ein Kaufmann aus Paris“, „Ich seh’ etwas, was du nicht siehst“, „Ene mene Mu und raus bist du“, errieten Werbespots durch Summen der Melodie, machten Gummitwist, spielten im Sand, spielten Verstecken, ich gab Kasperltheater-Vorführungen, vor der Garage im Hinterhaus war eine Schaukel oder alternativ Ringe zum Turnen aufgehängt. Tante Sophie schenkte mir mal „Das Buch der tausend Spiele“, und wir suchten uns immer eines aus, das wir dann ausprobierten. Wir waren so gut wie immer draußen, und bei schlechtem Wetter waren wir bei uns oder bei Ihrigs und spielten mit Puppen, nähten und strickten.
Und wenn wir nicht im Hof waren, waren wir mit Oma oder Sophie im Garten, in den Heidelbeeren, den Pilzen oder einfach nur spazieren.
Vor dem Geschäftshaus kam von links die „Rollgasse“ vom Berg herunter und bog vor der Brunnenstube nach links zum „Gärtner Berger“ ab. Ich will euch eine lustige Anekdote zur Rollgasse erzählen: Die Rollgasse war eine sehr steile, schmale Straße mit Kopfsteinpflaster. Damals gab es noch sehr wenige Autos im Ort, und auf der Rollgasse stand so gut wie keines. Im Winter wurde auch nie der Schnee in der Rollgasse geschoben, und so war die Rollgasse eine perfekte Rodelbahn. Wir konnten mit unseren Schlitten wunderbar hinuntersausen und mussten nur immer kurz bevor sie in die Brunnengasse mündete, auf der auch damals schon etwas mehr Verkehr war, zusehen, dass wir nach links Richtung Gärtner Berger abbogen und dass wir zwischen der Gärtnerei und dem 12-Röhren-Brunnen zum Stehen kamen. Meistens hat das auch geklappt.
Viele Jahre später – ich war in der Friseurlehre und machte gerade das Praktikum im Laden der Eltern – gab es an einem Samstag einen plötzlichen Kälteeinbruch. Innerhalb weniger Minuten bedeckte eine dicke Eisschicht den ganzen Ort, und es ging absolut nichts mehr. Einige Autos versuchten, die auch steile Brunnengasse hinaufzufahren, aber ohne Erfolg. Sie rutschten langsam wieder zurück und sammelten sich in Höhe des Brunnens. Also musste ich raus, um nach dem Rechten zu schauen, und was ich sah, war ein Schauspiel für die Götter: Auch die Rollgasse hatte sich in eine Eis-Rodelbahn verwandelt. Ziemlich oben, am Anfang der Rollgasse, versuchte Brunhilde, die von allen nur „das Luisel“ genannt wurde, irgendwie auf die andere Straßenseite zu kommen. Schwierig! Sie unternahm sehr akrobatische Versuche, irgendwie vom Fleck zu kommen, ohne direkt die Straße hinunterzurutschen. Ohne Erfolg. Dann hatte sie offenbar die zündende Idee, zog die Schuhe aus und versuchte die Rollgassenüberquerung nur mit Socken. Zunächst schien das eine nicht so schlechte Idee zu sein, doch schon sehr bald kam Luisel ins Straucheln, bekam eine am Straßenrand stehende Mülltonne zu fassen und sauste laut schreiend mit der Mülltonne im Arm geradewegs die Rollgasse hinunter – und kam kurz vor der Brunnengasse samt der, oh Wunder, nicht umgekippten Mülltonne zum Stehen. Ein grandioses Winterschauspiel. Ach, es war immer was los bei uns!
Der Gärtner Berger war ein Milch- und Gemüseladen, direkt am 12-Röhrenbrunnen gelegen. Dort holte ich oft für Mama Milch in einer wahlweise Zink- oder Plastikkanne. Der Gärtner hatte eine Milchzapfanlage. Die fand ich immer großartig. Das war eine Theke, in die unten eine große Kanne Milch aus der Molkerei gestellt wurde. Oben war eine Art Hahn, ähnlich wie bei einer Bierzapfanlage, und ein großer Metallhebel. Frau Berger bewegte dann diesen Hebel nach unten und wieder hoch, bis die Kanne voller frischer, schäumender Milch war. Es roch in diesem Teil des Ladens immer wunderbar nach Milch und Quark. Der Quark war viel fester als heutzutage, ich glaube, er wurde damals auch „Schichtkäse“ genannt, lag auf großen Blechen in der Kühlung und wurde dann zum Verkauf portionsweise in ein Pergamentpapier gewickelt. Auf dem Heimweg schleuderte ich gerne die Milchkanne im Kreis und freute mich riesig, dass kein Tropfen Milch verschüttet ging.
Im Sommer planschten wir auch viel im Brunnen und ließen Schiffe in der Ablaufrinne des Brunnens schwimmen. Opa antwortete gerne Besuchern des Ortes auf die Frage, ob das Wasser im Brunnen Heilwasser sei: „Wenn ihr sehr lange von dem Wasser trinkt, dann werdet ihr auch sehr alt.“ Als Kind fand ich das irgendwie dubios, heute weiß ich natürlich, was er meinte. Grins.
Wo ich schon bei Opa bin: Einmal war ich bei ihm in der Friseurstube und hörte ihn einem Kunden sagen: „Dieses Jahr kommt die kalte Sophie im Bikini.“ Das konnte ich mir absolut nicht vorstellen! Tankte Sophie im Bikini! Das ging doch überhaupt nicht! Heute weiß ich natürlich, dass gerade die Eisheiligen waren und Opa nicht Tante Sophie, sondern die letzte der Eisheiligen, die heilige Sophie, meinte, dass sie im Bikini käme. Das Bild von Großtante Sophie im Bikini hatte sich aber für alle Zeit in meiner Erinnerung eingenistet!
Die Brunnengasse aufwärts gab es unter anderem den „Katzenbeißer“, einen Metallwaren- und Geschirr-Laden, den „Lammwirt“, einen Metzger, und unter anderen das Textilhaus „Seip“, welches ich als absolut beeindruckend empfand. Es war ein riesig hoher Raum mit dunklen, raumfüllenden Holzschränken voller Schranktüren, Schubladen und Regalfächern, wo Stoffballen, Garne, Nadeln und alles an Kurzwaren lagerten. Vor den Schränken waren zwei Theken. Auf der einen wurden die Stoffballen ausgelegt, mit einem Holzstab abgemessen und dann zugeschnitten, auf der anderen Theke thronte die messingfarbene Registrierkasse mit dem großen Hebel an der Seite. Vor den Schränken ging rechts und links eine Treppe hinauf zur Empore, wo es mit der Warenpräsentation weiterging. Ich fand das sehr beeindruckend. Es herrschte immer eine eigenartige Ruhe im Laden, und Frau Seip begrüßte einen mit ihrer sehr hohen Fistelstimme und einem nicht ortsüblichen Dialekt, der sehr viele Üs und Ös beinhaltete, den ich heute aber nicht mehr richtig zuordnen kann, aus welcher Region er stammte.
Dann gab es den „Bundschuh“, ein Düngemittelgeschäft, die Volksbank, die Stadt-Apotheke, den „Tröster“, ein Feinkostladen, den „Lebensretter“, ein Reformhaus, ein Fischgeschäft, Frau Wohner, die Hutmacherin, zwei weitere Geschäfte, die ich nicht mehr erinnere – wahrscheinlich war ich nie drinnen –, und dann oben, am Ende, oder eigentlich war es der Anfang der Brunnengasse, war eine große Kreuzung, der „Metzkeil“. Der Metzkeil war DAS Kommunikationszentrum von Beerfelden. Dort fanden sich immer Leute ein, die sich gruppierten und stundenlang alles Mögliche und Unmögliche diskutierten und dabei alles, was so um den Metzkeil herum passierte, im Auge behielten. Dort war das Kaffee Sattler, der „Mehlheiner“, ein weiterer Textilladen, der „modernere“, der mit der Konfektionsware, und dann noch ganz wichtig: die Eisdiele. Da durfte ich mir immer ein Bällchen Eis für 10 Pfennig holen und bekam noch so einen kleinen Eiszipfel auf das Bällchen drauf.
Das waren erstmal so die wichtigsten Läden um mein Elternhaus herum. Es gab noch viele Geschäfte mehr, und öfter machte ich abends mit Mama einen „Schaufensterbummel“ durch den Ort. Es war ein florierender Ort und immer viel los, wenn die Postbusse aus den Nachbarorten kamen. Heute liegt Beerfelden, wie so viele andere Kleinstädte in strukturschwachen, wenig touristischen Gegenden unseres doch so schönen Landes, leider im Sterben, und von der Pracht und Vielfalt meiner Kindheit ist fast nichts mehr zu sehen. Das machte mich in den letzten Jahren immer sehr traurig, wenn ich durch die etwas verfallen und morbid wirkende kleine Stadt ging.
Folge 006
Heute nehme ich noch einmal meine frühe Kindheit und meine Schwester Ursula bis etwa zu meiner Pubertät in den Blick. Meine liebe Schwester Ursula: ein nicht wegzudenkender Bestandteil meiner Kindheit, Jugend, frühen und späteren Erwachsenenzeit. Unglücklicherweise bekam unsere über mehr als 60 Jahre sehr gute Beziehung durch die Problematik des Verhältnisses zwischen meiner Mutter und vor allem meinem Schwager sowie Ursula einen gehörigen Riss, der sich bis heute, 2025, nicht wieder flicken ließ.
Ursula ist mir nach wie vor sehr nahe und wichtig und gleichzeitig durch die schwierige Zeit und Auseinandersetzung mit Mama etwas fern. Aber hier geht es um unser sehr gutes Verhältnis in unserer Kindheit und Jugend. Wir waren beide ständig am Zanken und Streiten, ganz so, wie sich das für Geschwister gehört. Meine kleine, jedoch ältere Schwester wollte immer die Bestimmerin sein, und ich, ganz nach meinem Großvater kommend, ließ das gerne mit mir machen. Musste ich dann doch meistens nicht die Verantwortung tragen und konnte gut hinterhertrödeln. In mancherlei, mir nicht so wichtig erscheinenden Belangen ist das zum Verdruss meines lieben Ehemannes bis heute so geblieben.
An die ganz frühe Kindheit kann ich mich, wie gesagt, nicht allumfassend aus eigener Kraft erinnern. Wenn, dann erinnere ich mich wahrscheinlich auch viel durch Erzählungen. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass es für mich das Schlimmste auf der Welt war, die Fußnägel geschnitten zu bekommen. Es brauchte beide Eltern dazu, und Ursula nahm ebenfalls fasziniert Anteil an dem Schauspiel. So, wie eine sich sträubende Katze kaum zu bändigen ist, wenn deren Krallen geschnitten werden sollen, so war auch ich außer Rand und Band während dieses Ereignisses. Einer musste mich halten und fixieren, während der oder die Andere versuchte, das Werk zu verrichten. Ich scheine es immer ohne bleibende Schäden – außer an der Seele – überlebt zu haben, sind meine Füße doch noch immer intakt und ansehnlich. Vielleicht erlitt ich in einem früheren Leben, an das ich nicht glaube, eine Art Fuß-Folter mit Ziehen der Zehennägel oder ähnlichen Greueln. Ursula konnte das Debakel auf jeden Fall nicht verstehen.
Oder die Geschichte, dass ich als Kleinkind wegen einer Phimose operiert wurde und ohne Kontakt zu den Eltern im Krankenhaus sozusagen „interniert“ war, was mir einen gehörigen Psycho-Koller verpasste. In diesem Zusammenhang wurde immer wieder erzählt, dass ich nun in dem Krankenzimmer war, Mama und Papa mich nur durch eine Scheibe in der Tür sehen durften und sie mir durch die Krankenschwester ein Blech-Spielzeugauto zukommen ließen, das meiner Schwester gehörte. Laut Erzählung war ich beim Erhalt des Spielzeuges total außer Rand und Band und sagte immer wieder, während ich das Blechauto an mich drückte: „Ulla dess!“ Also, dass das Auto meiner Schwester gehört. Ich empfinde diese Geschichte als Erinnerung, obwohl es nur eine Erzählung ist.
Einmal war ein Sonntagsausflug geplant. Papa hatte noch das Goggo-Mobil. Wir wurden hübsch hergerichtet, Mama und Papa machten sich auch fein. Wir wollten auf den „Krehberg“ zum Kaffee „Reußenkreuz“ fahren, ein Stück spazieren gehen und dann gemütlich Kaffee trinken. Für mich war dieses Programm nur mittelmäßig schön. Zum einen würden mal wieder beim Spazierengehen meine auf Hochglanz polierten Schuhe staubig werden, aber was schlimmer war: Die Eltern würden wieder lauter Umwege und nicht den direkten Weg zum Reußenkreuz wählen. Das würde ich nie verstehen. Immer gingen sie Umwege, und wieso überhaupt Spazierengehen, wenn man am Ende ja doch wieder da ankommt, von wo man loslief? Das würde ich nie verstehen! Und außerdem würde Papa wieder von mir verlangen, dass ich der Kellnerin selbst sagen sollte, was ich trinken möchte. Was für eine unglaublich schwierige Aufgabe! Wusste er doch ganz genau, was ich haben wollte! Warum konnte er es der Kellnerin nicht mitteilen – dieser Frau mit den komischen beigen Schuhen mit den vielen kleinen Löchern darin und dem großen Loch vorne in der Mitte, aus dem sich der dicke Zeh zaghaft herauszuquälen versuchte? Eine unmögliche Zumutung!
Also waren wir startklar und wurden in den Gogo verladen. Papa fuhr, Mama vorne auf dem Beifahrersitz, Ursula und ich hinten. Hinten war aber keine gepolsterte Sitzbank, nein, da war nur ein Holzbrett, auf dem wir zwei saßen. Ein sehr archaisches Fahrzeug! Es ging los. Der Weg auf den Krehberg war steil und kurvig. Es gab da eine ganz besondere Kurve, fast ein ganzer Kreis schien es mir, und so nannte ich diese Kurve immer „die Lala“, weil sie mich an die großen, sich drehenden Schellack-Schallplatten auf Opas Plattenspieler in seiner Gaststätte zur Brunnenstube erinnerte. Kurz nachdem wir die Lala hinter uns gelassen hatten, passierte es: Papa kam mit dem Gogo von der Fahrbahn ab. Er hatte wohl die Lala etwas schnell genommen. Wir rutschten in den Straßengraben, und Ursula stieß sich ein wenig den Kopf an. Einige Sekunden herrschte betroffenes Schweigen, auch der Gogo gab keinen Mucks mehr von sich. Dann, ganz unvermittelt, meldete sich Ursula mit den zwei Worten: „DU DEPP!“ in der Stille. Mama und Papa brachen in Lachen aus, ich fand das damals nicht soooo witzig. Heute schon! Außerdem war sonst ja auch nichts passiert, und wir konnten dann, nachdem dies nun klar ausgesprochen war, unbeschadet weiterfahren.
Folge 007
Unser gemeinsames Leiden fand des öfteren beim Essen statt. Auch wenn wir uns eben noch auf das heftigste gestritten hatten, waren wir “ ein Kopf und ein Arsch “ wenn es gegen einen von uns ging. Und das Essen war so eine Sache. Öfter als es Mama lieb war, waren wir der Meinung, das das Essen ungenießbar und eine Zumutung war. Wir waren in Verweigerungshaltung , schaukelten uns gegenseitig in unserem Verweigerungswillen hoch bis es damit endete, dass Ursula mit ihrem Teller ins Bad und ich in die Toilette gesperrt wurde. So lange, bis der Teller leer war. Es war natürlich schlau von meinen Eltern, Ursula ins Bad zu sperren. Dort gab es keine Toilette und so konnte sie das Essen nicht auf elegante Weise los werden. Im Unterschied zu meiner Schwester war ich zu blöd, auf so eine Idee zu kommen. der Teller stand auf dem Toilettendeckel und ich zwang mir das essen hinunter, Keinen Moment mit dem Gedanken beschäftigt, es einfach die Toilette hinunter zu spülen. Oh Mann was war ich einfältig! Ursula und ich waren wirklich viel zusammen, spielten mit den Nachbarmädchen (und es gab nur Mädchen in der Nachbarschaft) im Hof, auf der Rollgasse oder am Brunnen. Das waren die Wielers-Mädchen Birgitt und Beate, da war „das Luisel“ oder Helga Eifert aus der Brunnengasse. Manchmal war auch jemand zu Besuch oder es kamen Kinder aus der Umgebung vorbei. Meistens war was los und wir waren ziemlich einfallsreich was unsere Spiele anbetraf. Ich hatte ja schon von unseren Spielen im Hof berichtet, das muss ich hier jetzt nicht wiederholen. Außerdem waren wir oft bei Tante Sophie bzw. mit ihr unterwegs im Dorf, Wald, der Stried, um dort Rollschuh oder Rad zu fahren oder im Garten. Wir waren ein gutes team. im sommer machten wir uns gerne auf den weiten weg in unser tolles Waldseebad. das war nicht so ein gemauertes und gefliestes Becken mit gechlortem
Wasser, nein, nicht im geringsten! wie der Name schon sagt: ein Waldseebad! da wurde in einem Talstück eine Staumauer gebaut und dann einfach der Boden des Talabschnittes betoniert. dementsprechend hatte das Becken die genaue form des Tales. an der Staumauer mehr als 3 meter tief, am oberen ende sehr flach für die kinder. es war ziemlich groß und weil es von einer quelle gespeist wurde, war es sehr kalt und zuweilen sehr grün. Chlor suchte man vergeblich, dafür fand man Frösche und sonstiges. es war sozusagen ein natürliches, fließendes Gewässer, denn die selbe menge die zufloss, die floss auch wieder ab. Das Waldseebad lag in diesem Talabschnitt und so hatte auf der linken, sonnigen Seite die Liegewiese ziemlich Hanglage. das war zum liegen nicht verkehrt, aber zur pflege der Wiese suboptimal und so stand das gras öfter mal etwas höher als in „normalen“ Schwimmbädern. auf der rechten Bad-Seite war der Hang deutlich steiler und mit bäumen bewachsen. auf der Staumauer stand noch ein 3-Meter-Sprungturm von dem ich nie herunter gesprungen bin. seitlich gab es zwei Einstiegstreppen in den tiefen Bereich. oben, war der Einstieg in das Bad flach und mit gemauerten, flachen Stufen über die ganze Breite. das Waldseebad war ein gutes Stück von unserem Haus entfernt. Der Garten in der Stried lag auf halbem Weg. Ab da
ging es die „Lindenallee“ entlang bis zur „Wolfsschlucht“, ein wild-romantisches Stück Weg bis hinunter zum eiskalten Waldseebad. Die sehr erfrischende Wasserthemperatur hatte zur Folge, dass wir im Sommer auch oft nach Hetzbach, unser Nachbardorf ins Schwimmbad gingen. Viel kleiner, aber nicht so kalt. Wenn es aber sehr heiß war, dann war das Beerfeldener Waldseebad immer gut besucht. War es doch auch ungleich schöner und natürlich größer. Man verbrachte dann eben mehr Zeit auf der riesigen Hangwiese als im Wasser. Wenn ich erstmal den Weg ins Wasser gefunden hatte, dann blieb ich so lange, bis mich Mama herauszitierte mit dem Hinweis, dass ich schon ganz blaue Lippen hätte. Oft traf man Verwandschaft, Nachbarn, Freunde im Bad. Ich fand es immer sehr merkwürdig, wenn mein Cousin Reiner aus dem Wasser kam. Rainer, der vom Alter her locker mein Onkel hätte sein können, litt schon etwas unter Haarausfall, und so trug er seinen Scheitel direkt über dem rechten Ohr. Die Haare auf dieser Seite ließ er so lange wachsen, dass er sie mit viel Haarspray über die kahl werdende Stelle auf dem Oberkopf hinüber zum anderen Ohr drapieren konnte. Auf der anderen Seite waren die Haare natürlich entsprechend kurz geschnitten. Wenn Reiner dann nach dem Sprung vom 3-Meter-Turm wieder auftauchte, dann hingen ihm auf der rechten Scheitelseite die langen Haare bis auf die Schultern während der Oberkopf frei lag und auf der anderen Seite die kurzen Haare zum Vorschein kamen. Dann strich er sich immer sogleich mit
einer unnachahmlichen Handbewegung die lange Strähne wieder an die richtige Stelle, in der Hoffnung, dass es keiner bemerkt habe, was natürlich nie glückte und immer wieder schmunzelnde Gesichter hervorbrachte. Faszinierend! Eines wusste ich dementsprechend schon in frühester Kindheit: „Das wird mir mal nicht passieren!“ Ich hielt es dann doch lieber entsprechend Opas Frisur-Leitspruch: „lieber eine Glatze als gar keine Haare“…..
Folge 008
Wir waren auf dem Beerfeldener Pferdemarkt, aber als noch 5-jähriger junge war ich nicht so mutig und forsch wie andere Jungs in diesem Alter. Das kam bei mir dann wenige Jahre später. Bei diesem Marktbesuch wollte Papa uns etwas besonderes bieten. Es gab eine „Reitschule“, so nannten wir Karussells, die diesen Namen verdiente. Als Kind konnte man auf einem der im Kreis stehenden und gemächlich im Kreis gehenden Ponys reiten. So große Lust hatte ich nicht, aber ich wurde eher gezwungen als überredet, aufzusteigen. Los gings! Schon nach wenigen Schritten viel klein Walter vom Pony. Großer Aufruhr, mein Arm stand völlig unnatürlich vom Körper ab. Ich schrie erbärmlich. Mama rief etwas von „Arm gebrochen“ und man zerrte mich aus der Gefahrenzone, während Ursula verzweifelt nach meinem abgebrochenen Arm suchte…. Ich wurde zu Doktor Blitz verschleppt, weil unser Hausarzt dr. Kaiser keinen Dienst hatte. Doktor Blitz renkte mir zuerst den ausgekugelten Arm wieder ein. Höllenschmerzen! dann ging es nach Erbach ins Krankenhaus. Komplizierter Splitterbruch im linken Ellenbogen. Muss operiert werden! Oh weh! Dann die Narkose. Ich bekam so eine Art Stickrahmen aufs Gesicht und irgendeine Flüssigkeit wurde draufgesprüht. Ekelhaft, Grauenhaft. Chloroform. Ich hatte fürchterliche Halluzinationen, die ich heute noch sehe wenn ich daran denke. Ich war geplagt von völlig verzerrten, grell bunten Bildern und ekelhaftem Rauschen und Zirpen. Ein einziges Inferno. Dann, wieder zurück unter den Lebenden ging die Kotzerei los. Es muss gewesen sein, wie bei dem Film „Exorzist“. Walter kotzt im strahl. Dafür hatte ich jetzt einen wunderbaren Gipsarm, auf dem aller herummalen durften. Nach ein paar qualvollen einarmigen Wochen wurde der Gips vom Arm abgenommen. Darunter kam eine juckende, aufgequollene, pustelige Haut zum Vorschein. Und ein falsch zusammengewachsener Bruch. Verdammt! Also wieder Narkose mit dem Teufelselixier, wieder Halluzinationen, Der Bruch wurde abermals erst gebrochen und dann mit einem Metallstift fixiert. Wieder der selbe üble Aufwachprozess und wieder ein neuer weißer Gips um meinen Arm. Diesmal hatte es funktioniert und nach wochenlanger Stilllegung des Armes begann die mühsame Arbeit, den Arm wieder fit zu bekommen. Papa machte jeden tag Striche am Türrahmen, um zu sehen, wie hoch ich den Arm jeweils heben konnte. das war eine schwierige Zeit aber bis zur Einschulung nach dem kommenden Osterfest war alles wieder so, wie es sein sollte. Kurze Nachbemerkung: am Tag nach dem Unfall war das Pony-Karussell nicht mehr da. obwohl der Markt noch im vollen Betrieb war, wurde offensichtlich gleich nach dem Ereignis das Zelt abgebaut, alles eingepackt und weggeschafft. Wahrscheinlich aufgrund fehlender Versicherungen und der Angst in Regress genommen zu werden. …Apropos Pferdemarkt. Im folgenden Jahr war ich schon etwas wagemutiger und so bestieg ich mit Ursula und mit Todesverachtung einen Wagen vom Autoscooter. Und los ging es. Ursula und ich konnten uns nicht einigen, wer fahren darf und ich erinnere mich nicht mehr, wer das Steuer in der Hand hatte, als wir frontal mit einem anderen Wagen kollidierten. Ihr ahnt was kommt! Ja, genau. Ich knalle mit dem Kopf voll auf die vordere Haltestange und ersparte mir damit den Zahnarzt zum Milchzahn ziehen…. Blutüberströmt springe ich beim vollen Betrieb es Autoscooters aus dem Wagen und renne über den Eisenboden des Fahrgeschäftes zum Rand.
Wir spielten sehr gerne gemeinsam mit Ursulas Puppen, später mit der Barbie, wir lernten Nähen, Häkeln, Strickliesel stricken und auch richtig Stricken. Wir waren ein gutes Team. In der späteren Kindheit, so um Ursulas Pupertät herum waren wir nicht ganz so eng, aber das lag an unseren unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Ursula war in ihrer Entwicklung für ein Mädchen ein wenig spät, aber in der typisch aufrührerischen Stimmung. dafür ich ich ein wenig früh dran, bekam früh Bartwuchs und kam früh in den Stimmbruch, was mir den Rauswurf aus dem Schulchor bescherte. Irgendwann flog mir der Schlüsselbund von Herrn Stöckeler an den Kopf und beendete meine Chor-Karriere. Konnte ich schon bei der Geburt nicht bis zum errechneten Termin
warten, hatte ich es auch sehr eilig, erwachsen zu werden und konnte den Abstand zu Ursula dann einigermaßen aufholen oder kompensieren. Dazu kommt natürlich, dass Mädchen in den 60er-jahren weniger Freiheiten genossen als Jungs. Ursula war schon als Kind sehr unentschlossen und konnte sich nur schlecht entscheiden. wenn wir mit den Eltern einkaufen waren und Ursula sollte sich etwas zum Anziehen aussuchen, war das immer ein stundenlanges hin und her und sie konnte sich nur ganz schwer für etwas erwärmen, oder anders: sie erwärmte sich für dies und das und konnte aber nicht sagen, was ihr besser gefiel oder passte. Ursula war als Kind oft schlecht gelaunt, unzufrieden und zickig. Oma meinte immer :“Das Ursel hat immer so einen Betz!“, was im Odenwald so viel wie „Zorn“ bedeutet. Ursula hatte mich immer als Verbündeten. Egal, ob sie mal wieder unglücklich „verknallt“ war und sich dem auserkorenen nicht offenbaren konnte oder dieser sie nicht erhören wollte. während schwierigen Verliebtheitsphasen von Ursaula bot ich ihr Beistand und ein offenes Ohr, gab Trost und kluge Teeny-Ratschläge. Wir standen abends oder auch nachts oft stundenlang in unseren nebeneinander liegenden Zimmern an sunseren Fenstern, die ebenfalls direkt nebeneinander waren und glotzten runter auf den bunt beleuchteten Springbrunnen oberhalb vom 12-Röhren-Brunnen, sinnierten über diese und jenes, betrachteten die Leute, die unterwegs waren und hatten unseren spaß.